Wandzeitungen an der "Mauer der Demokratie", Xidan-Kreuzung in Peking, Dezember 1978
Die folgenden Fotos ermöglichen einen interessanten Einblick in die frühe Phase der Pekinger "Mauer der Demokratie", ein paar Tage nachdem Deng Xiaoping sich in mehreren Gesprächen mit ausländischen Journalisten und Politikern positiv zu Kritik und offenen Debatten, auch zu politischen Themen, geäußert hat.
Viele der Wandzeitungen behandeln persönliche Klagen über Missstände und während der "Kulturrevolution" erlittenes Unrecht, um in "offenen Briefen" an wichtige Staats- und Parteiführer Rehabilitierung und Wiedergutmachung zu verlangen. Auch politische Grundsatzfragen wie Meinungsfreiheit, Demokratie oder Polizei- und Behördenwillkür werden thematisiert. Immer wieder erheben Autoren die Forderung nach einer Neubewertung der "Kulturrevolution" und der Mao-Ära, die zu diesem Zeitpunkt immer noch als politisch unantastbar gelten
Die Fotos in diesem Abschnitt wurden von dem französischen Sinologen Alain Peyraube zur Verfügung gestellt. Er hat die Pekinger Demokratiemauer in der letzten Dezemberwoche 1979 besucht.
"Ein Warnschuss für Genossen Lin Hujia"
58 Arbeiter der "Pekinger Verbrennungsmotoren-Fabrik" beklagen, dass der kurz zuvor ernannte Bürgermeister Lin Hujia bei einem Werksbesuch nicht wirklich mit den Arbeitern, sondern nur mit ausgesuchten Teamleitern gesprochen habe, und daher nichts über die wirklichen Probleme (wie zum Beispiel Korruption) erfahren konnte...
"Wie der Anti-Zhou-Clown ins Netzt ging - schützt Premier Zhou, schützt die Mauer der Demokratie wie euren Augapfel"
Ein etwas dubioser Passant, so heißt es in der Wandzeitung, habe am 21. Dezember an der "Mauer der Demokratie" Parolen gegen Zhou Enlai gerufen. Wandzeitungs-Autoren wurden mit der "Viererbande" gleichgestellt. Er habe aber hinzugefügt, dass er dies nicht aus eigenem Antrieb tue, sonder dazu beauftragt wurde, und dass er in Wirklichkeit "psychisch krank" sei... Der Autor der Wandzeitung ruft zur Verteidigung der Demokratiemauer und zum Schutz des Ansehens des verstorbenen Premiers Zhou Enlai auf.
"Büro für Öffentliche Sicherheit in Peking: Gebt mir mein Leben zurück! (Was einem Jugendlichen des neuen China widerfahren ist)"
Es geht um vom Autor der Wandzeitung selbst Durchgemachtes, das 1964 seinen Ausgang nahm: Am 18. April wurden damals drei Jugendliche (15, 16 und 17 Jahre alt) im Zuge einer generellen "Säuberungskampagne" festgenommen und zum Geständnis gezwungen, eine "konterrevolutionäre Clique" gebildet zu haben. Er (einer der drei) wurde zu zwei Jahren "Umerziehung durch Arbeit" verurteilt. Warum eigentlich so milde, wenn er wirklich ein "Konterrevolutionär" war? Nun, 16 Jahre später, darf er noch immer nicht in die Stadt zurück. Er sei nach Peking gekommen, um eine Aufenthalterslaubnis zu fordern, erhalte aber keine Antwort, weil er nicht über entsprechende Beziehungen verfüge. Was soll er nun machen?
"Der Tiananmen-Zwischenfall - China und seine Geheimpolizei"
Eine Wandzeitung des bekannten Bürgerrechts-Aktivisten Ren Wanding kommentiert den Einsatz der "Geheimpolizei" im Zusammenhang mit den Vorfällen 1976 auf dem Tiananmen-Platz: "Geheimpolizei" steht für Diktatur, schreibt er, und je ausgefeilter das System eines geheimen Polizeiapparates sei, desto schwieriger sei es auch, "Demokratie und Rechtssystem" (Ren verwendet dabei den in dem bekannten Manifest von Li Yizhe kreierten Begriff) umzusetzen.
"Eine Zeitung mit kleinen Schriftzeichen"
Gong Nianzhou (龚念周, von der Akademie für Chinesische Oper, damals auch Herausgeber einer unabhängigen Zeitschrift) leitet einen Text aus der Bevölkerung, den er erhalten hat, an das Ministerium für öffentliche Sicherheit und an den "internen Dienst" der Agentur "Neues China" weiter (dort sollen ihn offenbar auch höhere Funktionäre zu lesen bekommen): In dem Schreiben wird kritisiert, dass Polizisten in Zivil an der "Mauer der Demokratie" die Nummernschilder von geparkten Fahrrädern notierten, offenbar um die Leser der Wandzeitungen auszuforschen. Doch die Bevölkerung sei nicht "Feind", sondern müsse von den Behörden geschützt werden!
"Ein kleiner Bürger, der sich nicht traut seinen Kopf hervorzustrecken..."
"Dem Hund mit dem blauen Fell ins Netz gegangen"
Gedichte eines "Einfachen Bürgers"
Im ersten Gedicht geht es darum, dass sich die Börden immer noch nicht klar zu den Fakten des "Bewegung des 5. April" 1976 auf dem Tiananmen-Platz ausdrücken, etwa zu dem Faktum, dass es keine Todesopfer gegeben habe. Im zweiten Gedicht wird Deng Xiaoping aufgefordert, für die Rehabilitierung des zu Beginn der "Kulturrevolution" attackierten Dichters Wu Han ("Hai Rui wird seines Amtes enthoben") zu sorgen. Auch im dritten Text geht es um die Wiederherstellung des Rufes politisch Verfemter wie des früheren Verteidigungsministers Peng Dehuai. Das Kurzgedicht unten attackiert die "Zwei-was-immer-Fraktion" (sinngemäß: "Wir halten fest an was immer der Vorsitzende Mao entschieden hat, und wir befolgen, was immer er angeordnet hat"), konkret geht es gegen den (von Mao noch persönlich eingesetzten) Parteichef Hua Guofeng.
"... wir brauchen keinen Personenkult"
Leider fehlen die Seite eins und ein Teil der Überschrift dieser Wandzeitung, die sich mit dem ausufernden und "unmarxistischen" Personenkult unter Mao befasst: Nicht eine einzige Person sei für die Revolution verantwortlich: "Das Volk hat die Geschichte gemacht, die chinesische Revolution ist der Erfolg der gemeinsamen Anstrengungen von Abertausenden und Millionen Menschen."
"Offener Brief an den Vorsitzenden Hua"
Fu Yumian, eine 32-jährige Frau ("arme Bäuerin") aus der Provinz Henan, klagt über die Untätigkeit der Behörden: Ihr Mann habe sie geschlagen, habe schon seit vielen Jahren eine andere, will sich aber nicht scheiden lassen. Sie hat schon über 100 Briefe geschrieben, 80 Anzeigen eingebracht und viele Male bei den Behörden vorgesprochen. Ihr Mann müsse bestraft werden, er soll Unterhalt zahlen, und Frauen muss man vor Gewalt schützen, verlangt sie.
"Das Parteikomitee der Kriegsmarine muss sich für die Rehabilitierung der Opfer einsetzen"
Kommentare...
... auf ein Exemplar der Zeitschrift "Forum 5. April" gekritzelt, das an der Mauer der Demokratie angebracht wurde. In großen Schriftzeichen (offenbar wieder von der Bäuerin Fu Yuhuan!) steht gleich zu Beginn: "Die 'Volkszeitung' ist ohne Volk, die Guangming-Zeitung ['Das Licht'] ist finster, die Wenhui-Zeitung ['Kultur'] ist eine Zeitung der Diktatur, sie täuschen das Volk und spielen mit ihm." Die Behörden hätten der Post geheime Anweisungen gegeben, ihre Briefe nicht weiterzuleiten, man habe sie in eine psychiatrische Klinik gebracht und gezwungen einen anderen Mann zu heiraten. ...
Andere Kommentare beziehen sich auf die von Xu Wenli herausgegebene Zeitschrift "Forum 5. April": "Wir hoffen, dass wir noch mehr Zeitschriften von Euch lesen können, denn sie kommen aus dem Volk", "Die sozialistische Revolution braucht mehr Mut", "Ihr macht eine gute Zeitschrift!". Einige Leute schreiben auch ihre Kontaktadresse dazu, einer notiert: "Der KGB findet dich sowieso, so finden dich auch deine Freunde". Ein weiterer Kommentator kritisiert das "Forum 5. April": "Oberflächliche Meinung", ihr übt nur Kritik, bietet aber keine Lösungen. Ein anderer notiert: Wer die Bewegung unterdrückt, ist wie ein Guomindang-Polizist oder faschistischer Bandit."
"An die Leser"
In dieser nicht ganz vollständigen Wandzeitung geht es um den Tod des 21-jährigen Su Jingqi im August 1977. Seine Eltern klagen, dass er von "Praktikanten" der Volkskommune "Vier Jahreszeiten Grün" (eines landwirtschaftlichen Vorzeigebetriebs im Westen Pekings) gefoltert und totgeschlagen wurde, Fotos der Leiche untermauern die Anschuldigungen. Die Polizei habe auf Anfragen, was genau passiert sei, nie geantwortet, die Regierung müsse den Fall untersuchen ...
"Dialog: Debatte über Bildung"
"Nicht der Rede wert"
"Gebt mir die Seele, die Jugend, Fortschritt und Erleuchtung zurück" - Kritik an Mao, ohne allerdings seinen Namen zu nennen (es heißt immer nur "er"). "Er" sei für den Tod von Tausenden verantwortlich und habe China in die Katastrophe geführt, das sei eben keine kleine Sache und keinesfalls "nicht der Rede wert".
"Oh, Partei! Gebt mir bitte wieder ein Schreibwerkzeug! Offener Brief an die Parteiorganisation des Chinesischen Schriftsteller-Verbandes"
Ein (Amateur-)Lyriker klagt, dass er seit 20 Jahren nichts veröffentlichen kann. Er habe einmal in einem Gedicht vier Zeilen eines anderen zitiert, wurde dafür bestraft, weil er das Urheberrecht verletzt habe und angeblich ein Honorar erschwindeln wollte. Jetzt bittet er wieder schreiben zu dürfen ...
In der Anmerkung darunter geht es darum, dass sich die Büros, in denen die zahlreichen Beschwerdeführer ihre Klagen einreichen können, zu wenig um die Anliegen kümmern, und dass sie zu wenig effizient arbeiten.
"Ein Lob der Xidan-Demokratiemauer"
Nr.1 der Zeitschrift "Jintian" (Heute) mit einem Holzdruck von Ma Desheng
Die meisten Zeitschriften der Demokratiebewegung wurden am Erscheinungstag nicht nur an der "Mauer der Demokratie" verkauft, in der Regel wurde auch eine vollständige Nummer an der Mauer aufgeklebt, für all jene, die die Zeitschrift nicht mehr ergattern konnten oder sie nicht unbedingt kaufen wollten.
"Bekanntmachung"
Ironisch, ganz im Stil offizieller Behörden-Kundmachungen:
"Aufgrund der gerechten Forderungen der breiten revolutionären Massen, der Fürsorge des Vorsitzenden Hua [Guofeng] und des Zentralkomitees der Partei und des persönlichen Handelns des Genossen Lin Hujia [Pekinger Bürgermeister] konnte das Pekinger Büro für öffentliche Sicherheit nicht umhin bekanntzugeben, dass der Genosse Tang Daqian [?] am 13. Dezember um 11 Uhr Vormittag "wegen fehlender Schuld freigelassen" wurde.
Kundgemacht von
einem Teil der Leidtragenden des Tiananmen-Zwischenfalls,
die das Schwert ziehen und helfen, wenn ihnen Ungerechtigkeit begegnet,
am 14. Dezember 1978"