Abschied vom Sozialistischen Realismus
In den 1930er- und 1940er-Jahren hatten unabhängige Literaten, Künstler und Filmemachervor allem aus Shanghai, die auch sehr unterschiedliche Stilrichtungen repräsentierten, die maoistische Revolutionsbewegung unterstützt. Doch nach der Gründung der "Volksrepublik" 1949 verengte sich allmählich der Kodex der künstlerisch Gewollten und Erlaubten, der "Sozialistische Realismus", wie er in Stalins Sowjetunion praktiziert wurde, diente auch China als Leitbild, angereichert nur durch die nationalen chinesischen Kulturtraditionen. Die immer noch relativ neuen "westlichen" Richtungen wie Expressionismus und Impressionismus, Ästhetizismus, Existenzialismus, Abstraktes und Surreales wurden zunehmend ausgegrenzt. Schon 1942 hatte Mao Zedong in Yan’an die These entwickelt, dass Kunst und Literatur ausschließlich "dem Proletariat" und den politischen Zielen zu dienen hätten, während der "Kulturrevolution" (1966-76) wurde diese Forderung durch Maos Ehefrau Jiang Qing (江青), einer früheren Schauspielerin, die einen eigenen Sitz im Politbüro innehatte, nochmals zugespitzt. Viele Kulturschaffende wurden damals verfolgt, ihre Werke verboten und zum Teil physisch vernichtet.
Widerstand regte sich nur im Privaten, junge Künstler und Autoren malten und schrieben im Untergrund für sich selbst oder für vertrauenswürdige Freunde. Auch später waren öffentliche kulturelle Aktivitäten nur im Rahmen der staatlichen Akademien und des Schriftstellerverbandes möglich. Erst Mitte/Ende der 1970er-Jahre formierten sich informelle Künstlerzirkel, die Neues und Ungewohntes wagten, wie die "Namenslose Künstlergruppe" (无名画会), die im Juli 1979 im Pekinger Beihai-Park Werke ausstellte, die nur wenig dem Kodex des Sozialistischen Realismus entsprachen. Auch an der "Mauer der Demokratie" zeigten unabhängige Künstler wiederholt unter freiem Himmel ihre Werke.
Eine noch radikalere Abkehr repräsentierten aber die rebellischen Künstler und Literaten, die sich in der Maler- und Bildhauervereinigung "Die Sterne" (Xingxing 星星画会) und rund um die unabhängige Zeitschrift "Heute" (Jintian 今天) formieren, und die auch eng mit der politischen Demokratiebewegung verbunden waren. Eine weitere gleichgesinnte Gruppe waren die Fotokünstler der "Fotografie-Vereinigung April" (四月影会), die ihren Ursprung in den April-Protesten des Jahres 1976 auf dem Tiananmen-Platz hatte. Ganz im Sinne des traditionellen ganzheitlichen Kunstbegriffes waren die Übergänge zwischen Malern, Literaten, Fotokünstlern, Grafikern und Bildhauern fließend, und die meisten waren in mehr als einem der Metiers engagiert.
Die Gruppe "Die Sterne" (Xingxing 星星)
"Sterne" (engl. "The Stars") werden sie meist im Ausland genannt, doch der chinesische Name ist mehrdeutig und hat eigentlich einen anderen Ursprung: Er bezieht sich auf das berühmte Mao-Zitat aus dem Jahr 1930 "Ein Funke kann einen Steppenbrand entfachen" (星星之火可以燎原, engl. "A single spark can start a prairie fire"). Die korrekte Übersetzung wäre also "Die Funken", doch jeder nennt sie heute "Die Sterne", und "The Stars" ist natürlich noch einen Dreh erwählter.
Die Gruppe formiert sich Mitte 1979 rund um die befreundeten autodidaktischen Künstler Huang Rui (黄锐) und Ma Desheng (马德升), die auch an der Gründung der Zeitschrift "Heute" beteiligt waren. Qu Leilei (曲磊磊), Yang Yiping (杨益平), Li Yongcun (李永存, Künstlername Bo Yun 薄云) sowie Zhong Acheng (钟阿城) sind ebenfalls frühzeitig bei beiden Projekten dabei, genauso wie der Holzbildhauer Wang Keping (王克平) mit seinen politisch und erotisch anzüglichen Objekten.
Bald stoßen auch einige Jüngere dazu, der Maler und Lyriker Yan Li (严力) und seine ebenfalls malende Freundin Li Shuang (李爽), der Armeekünstler Mao Lizi (毛栗子) und auch der damals noch völlig unbekannte Ai Weiwei (艾未未), immerhin Sohn eines in der "Kulturrevolution" geächteten berühmten Schriftstellers und ranghohen KP-Kulturfunktionärs. Man gibt sich den Namen "Künstlervereinigung Die Sterne" (星星画会), formuliert ein Statut und verfolgt nun die Idee, eine gemeinsame Ausstellung zu organisieren.
Die Literaten der Zeitschrift „Heute“ (Jintian 今天)
Der klassische chinesische Kunstbegriff, wie gesagt, trennt nicht zwischen Malerei, Kalligraphie (kunstvollem Schreiben) und Literatur (vor allem Lyrik). Viele der jungen Autodidakten praktizieren mehrere Kunstformen, und die Künstlergruppe "Die Sterne" ist auch eng verzahnt mit der Redaktion der Zeitschrift "Heute": Der Maler Huang Rui ist ihr Layout-Redakteur (oder "Art-Direktor", wie man heute vielleicht sagen würde), Qu Leilei und Ma Desheng liefern regelmäßig Illustrationen, und zu Beginn auch kleine Original-Holzdrucke, die in jedes einzelne Exemplar eingeklebt werden. Gründer und Chefredakteure sind der Lyriker Bei Dao (北岛, eigentlich Zhao Zhenkai 赵振开) und der Prosaautor (und Maler) Mang Ke (芒克).
Neben der "obskuren Lyrik" (gemeint ist ein Genre inhaltlich bewusst verschwommener Gedichte, auf ein Individuum bezogen und mehrdeutig interpretierbar) steht immer wieder die Gefühls- und Erfahrungswelt der "Kulturrevolution" im Mittelpunkt der Texte. Es ist die Literatur einer meist um 1950 geborenen "verlorenen Generation", die um Schulbildung und unbeschwerte Jugend betrogen wurde, und der fast alle Autorinnen und Autoren der Zeitschrift angehören. In "Heute" schreiben neben Bei Dao auch Shu Ting (舒婷), Yang Lian (杨炼), Gu Cheng (顾城), Duo Duo (多多), Jiang He (江河), allesamt heute längst anerkannte Repräsentanten der zeitgenössischen chinesischen Lyrik.
Ähnlich wie bei den "Sterne"-Künstlern wird damals auch unter den Literaten von "Heute" debattiert, ob man sich auf schöpferische und kulturelle Themen beschränken sollte, oder sich bewusst auch als Teil der politischen Demokratiebewegung sehen will. Die Gruppe ist gespalten, doch für die "reine Kunst" bleibt in dieser Zeit großer gesellschaftlicher Umbrüche (und politischer Ereignisse, die auch den engeren Freundes- und Aktivistenkreis betreffen) wenig Raum.
Die Demonstration am 1. Oktober 1979
Im Mai 1979 treffen sich Mitglieder der "Sterne"-Gruppe erstmals in größerem Kreis in einer Pekinger Privatwohnung, um die Idee einer Avantgarde-Kunstausstellung zu diskutieren. Huang Rui und Ma Desheng sollen zu diesem Zweck bei Liu Xun (刘迅), dem Vorsitzenden des offiziellen Künstlerverbandes von Peking vorsprechen. Liu war selbst in den 50er und 60er Jahren als "Rechtsabweichler" geächtet und hat zehn Jahre im Gefängnis verbracht. Als er in Huangs Wohnung die für die mögliche Ausstellung eilig zusammengetragenen Bilder sieht, ist er beeindruckt und signalisiert zunächst Wohlwollen, lässt dann aber mitteilen, dass die Pekinger "Galerie der schönen Künste" (heute "Nationalgalerie") bis 1980 verplant sei, eine Ausstellung daher nicht möglich, auch nicht an einem anderen Ort.
In Hinblick auf die rasante gesellschaftliche Dynamik (die Angst, dass ein Jahr später schon wieder alles anders sein könnte) beschließt man, zunächst eine improvisierte Schau unter freiem Himmel zu organisieren, und wählt dafür den Platz außerhalb des Metallgitters der Kunstgalerie.
Um die Behörden nicht zu früh aufzuscheuchen, werden in Peking erst am Tag vor der Eröffnung Plakate mit der Ankündigung geklebt. In der Nacht zum 27. September bringen die Künstler mit einem geborgten LKW ihre Werke (mehrere Dutzend an der Zahl) zum geplanten Ort, wo man die Bilder und Skulpturen mit Schnüren und Haken am Außenzaun befestigt. Und die Freunde der "Photographie-Vereinigung April" stehen mit ihren Kameras bereit.
Tausende Schaulustige strömen zu der Freiluft-Schau an der belebten Straße, auch Jiang Feng (江丰), der Vorsitzende des Allchinesischen Künstlerverbandes, und einige ausländische Journalisten kommen, doch schließlich auch die Polizei, die die Ausstellung untersagt und die Abnahme der Bilder verlangt. Sie werden in einem versperrten Raum der Galerie zwischengelagert, mit Ausnahme einiger politisch besonders "sensibler" Kunstwerke, die man, um keine Konfiskation zu riskieren, rasch privat bei Freunden in Sicherheit bringt.
Auch weitere Verhandlungen mit den Behörden bringen – trotz Bemühens des Künstlerverbandes – kein Ergebnis. In dem Ringen um künstlerische Freiheit kommt es schließlich zum Schulterschluss mit den befreundeten politischen Aktivisten der Demokratiebewegung, die ihre Solidarität angeboten haben. Gemeinsam bereiten Künstler und Redakteure der verschiedenen unabhängigen Zeitschriften einen Protestmarsch vor, der am 1. Oktober 1979 (chinesischer Nationalfeiertag!) von der "Mauer der Demokratie" durch das Pekinger Zentrum zum Parteikomitee der Stadt führen soll.
Mehrere hundert Aktivisten nehmen an dieser historischen Kundgebung teil, in den ersten Reihen marschieren Xu Wenli und Lü Pu (吕朴) von der Zeitschrift "Forum 5. April2, Mang Ke und Bei Dao ("Heute") und die Künstler Huang Rui, Ma Desheng und Wang Keping. Auf den Transparenten wird "politische Demokratie" und "künstlerische Freiheit" sowie die Einhaltung der chinesischen Verfassung gefordert, und natürlich eine Erlaubnis für die unabhängige Kunstaustellung.
Alle sind auf eine gewaltsame Auflösung der Kundgebung durch die Polizei eingestellt, doch von den entlang der Straße postierten Polizeiorganen wird nur eine andere Marschroute vorgeschrieben, die nicht über den Tiananmen-Platz führt. Vor dem Parteikomitee-Gebäude, nicht weit vom zentralen Peking-Hotel, werden nochmals Reden geschwungen, und trotz des Nationalfeiertages findet sich schließlich ein höherer Funktionär, der eine Abordnung der Protestierenden empfängt und eine Weiterleitung ihrer Forderungen zusagt.
Die Ausstellungen der "Sterne"
Zu aller Überraschung ist der Protest erfolgreich, auch weil ein Teil der etablierten Staatskünstler die Bewegung unterstützt. Am 23. November 1979 dürfen die "Sterne" schließlich in Peking ihre erste öffentliche Avantgarde-Ausstellung im Huafangzhai-Pavillon (画舫斋) des Künstlerverbandes im Beihai-Park abhalten. 23 Künstler präsentieren zwei Wochen lang Ölbilder, Tuschemalereien, Holzdrucke und Skulpturen unter dem Motto "Die Welt mit eigenen Augen erfahren, und mit Malerpinsel und Bildhauerwerkzeug an ihr partizipieren" (用自己的眼睛认识世界,用自己的画笔与雕刀参与世界。). Im März 1980 druckt die offizielle Kunstzeitschrift "Schöne Künste" (Meishu 美术) erstmals einen – durchwegs positiven und mit Illustrationen versehenen – Artikel des renommierten Kritikers Li Xianting (栗宪庭). Das Eis scheint gebrochen.
Im August 1980 folgt eine zweite Ausstellung in der zentralen "Galerie der schönen Künste", um die man sich 1979 vergeblich so sehr bemüht hatte. Während die rasch organisierte erste Ausstellung 1979 noch in relativ kleinem Rahmen abläuft (es existieren auch nur wenige Zeitdokumente davon), wird die zweite 1980 zu einem großen Erfolg. Sogar das Parteiorgan "Volkszeitung" (Renmin Ribao 人民日报) druckt eine Ankündigung, mindestens 140.000 Besucher drängen sich schließlich, um Werke von bis dahin weitgehend unbekannten experimentellen Amateurkünstlern zu sehen, wie sie seit der Gründung der Volksrepublik überhaupt noch nie öffentlich gezeigt wurden.
Das Motto im Vorwort zur Ausstellung lautet diesmal: "Wir sind keine Kinder mehr. Wir wollen in einer neuen und reiferen Sprache mit der Welt in einen Dialog treten." (我们不再是孩子了。我们要用新的,更加成熟的语言和世界对话。)
Inhaltlich ist das Gezeigte von durchaus gemischter Bedeutung. Manche Künstler versuchen sich als Nachahmer der großen westlichen Stilrichtungen, mit Anleihen beim Expressionismus, Fauvismus oder Minimalismus, andere wollen chinesisches und westliches Erbe zusammenbringen, etliche trauen sich an Abstraktes und Surreales oder an den in China lange verpönten weiblichen Akt, allesamt Richtungen jedenfalls, die jahrzehntelang unerwünscht und verboten waren. Nur wenige – vor allem Wang Keping mit seinen Holzskulpturen – wagen auch die unverblümte politische Provokation. Sein "Götze" (偶像), der die Gesichtszüge Maos und eines Buddhas in sich vereint, wird zur Ikone der "Sterne"-Ausstellung.
Auch wenn es in den Jahren danach noch viele Auseinandersetzungen mit der Politik geben sollte, auch wenn viele Künstler zunächst einmal auf einige Jahre ins Exil gehen (und manche auch im Ausland verbleiben), ist es der Anfang einer künstlerischen Öffnung in China, die man bis heute spüren kann. Eine Öffnung, die allerdings nicht von einer ähnlichen Liberalisierung und Reformbereitschaft im politischen Bereich begleitet ist.
(Mehr Fotos von der zweiten "Sterne"-Ausstellung im August 1980 finden Sie hier.)