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Kontakte zu KP-Reformern

"Qingkuang Huibao" Nr. 758 (24. Nov. 1978) berichtet von der zunehmenden Zahl an Wandzeitungen an der Xidan-Mauer und in der Wangfujing-Straße, wo sich die Redaktion des KP-Organs "Volkszeitung" befindet
Die Nummer 770 (30. Nov. 1978) berichtet von tausenden geparkten Fahrrädern von Besuchern der Wandzeitungsmauer. Es komme immer wieder zu heftigen Debatten, einige Chinesen hätten sich bei amerikanischen Journalisten über das Absetzungsverfahren gegen den früheren Präsidenten Richard Nixon erkundigt.
Die Nummer 773 (1. Dez. 1978) berichtet über eine Wandzeitung, deren Autor fragt, warum die verfassungsmäßigen Freiheiten nicht ernst genommen würden, und das Volk zum Beispiel keine eigene Meinung zur Politik der Partei äußern dürfe.

Wie wir heute wissen, sind chinesische Politiker die ganze Zeit über bestens informiert über politische Ziele, Äußerungen und auch personelle und organisatorische Vorgänge rund um die Demokratiebewegung. "Interne Publikationen" berichten über Details und Inhalte von Wandzeitungen oder die Debatten an der "Mauer der Demokratie", Parteijournalisten werden ausgeschickt, um "Interviews" mit Aktivisten zu machen, die dann hochrangigen Funktionären als Information dienen. Ein solcher Bericht über die Gruppe "Gesellschaft für Aufklärung" aus Guizhou ist vor ein paar Jahren in Hongkong im Internet aufgetaucht. Auch interne Mitteilungsblätter, die die Inhalte kritischer Wandzeitungen referieren, liegen vor. Die Harvard College Library (Cambridge, Massachusetts) ist im Besitz einiger Ausgaben der "Lage-Zusammenfassung" (Qingkuang Huibian 情况汇编) von Ende 1978, die mehrmals täglich exklusiv für ranghohe Funktionäre über Inhalte der neuesten Wandzeitungen und die Debatten an der "Mauer der Demokratie" berichtet.

"Qingkuang Huibian" Nr. 726 vom 15. November 1978, S. 8., über die 1976 verhafteten Tiananmen-Aktivisten. Unten rechts steht auch der Name von Wang Yong'an (王永安), der wiederholt "interne" Berichte zur Demokratiebewegung verfasst hat.

"Journalisten" und eingeschleuste Informanten

Mehrere der interviewten Akteure der Demokratiebewegung (Xu Wenli, Liu Qing, Xue Mingde, Huang Xiang, ...) berichten in den Interviews, dass sie Ende 1978 oder 1979 von solchen "Journalisten" der Parteimedien kontaktiert und befragt worden sind. "Journalisten" unter Anführungszeichen, weil deren Artikel nie in den offiziellen Medien erschienen sind, sondern nur in internen Informationsdiensten für höhere Funktionäre zu lesen waren. Diese "Journalisten" hatten also eine mehrfache Funktion, sie waren auch Agenten der KP-Organisation, die die Aktivisten der Demokratiemauer und der unabhängigen Zeitschriften aushorchen und beobachten sollten.

Aber sie agierten offenbar unter ihren richtigen Namen, sie waren tatsächlich Mitarbeiter der genannten Medien (bzw. derer interner Dienste), und den Bürgerrechts-Aktivisten (und Avantgarde-Künstlern) war durchaus klar, mit wem sie es zu tum hatten, sie wussten, dass diese "Journalisten" nicht nur berichteten, sondern auch eine Art Mittlerrolle zwischen den Dissidenten und hochrangigen KP-Politikern ausübten. Mehrere Namen sind mittlerweile bekannt, auch einzelne Berichte, die sie verfasst haben, sind heute öffentlich zugänglich.

So taucht etwa der Name Wang Yong'an (王永安) in mehreren Zusammenhängen auf. Er hat zusammen mit Zhou Xiuqiang (周修强) für den internen Dienst der "Volkszeitung" Gespräch mit Huang Xiang und anderen Mitgliedern der "Gesellschaft für Aufklärung" geführt und einen ausführlichen Bericht verfasst, der im Internet (auf Chinesisch) verfügbar ist. Wang Yong'ans Name erscheint auch auf einer der bekanntgewordenen Nummern der "Lage-Zusammenfassung" Ende 1978. Ein weiterer Name, der in den Interviews mehrmals erwähnt wird, ist der von Tang Xin (唐欣) von der "Pekinger Tageszeitung" (北京日报).

Weitere interne Berichte zur Demokratiebewegung wurden nur indirekt aus zeitgeschichtlichen Erinnerungen bekannt. So haben die beiden Journalisten der "Volkszeitung" Fan Rongkang (范荣康) und Yu Huanchun (余焕春) im "Forum zur Theoriearbeit" Anfang 1979 eine ausführliche "Analyse der Xidan-Demokratiemauer" (西单民主墙剖析) vorgetragen, die auch im internen Informationsblatt der "Volkszeitung" (人民日报内参) an höhere Funktionäre verbreitet wurde. Tang Xin berichtet in seinen Erinnerungen (2008), dass er zwischen Februar 1979 und 1980 eine ganze Reihe interner Berichte zu den Aktivitäten der Dissidenten verfasst hat.

Darüber hinaus gab es verschiedenen Angaben zufolge (u.a. von Xu Wenli) auch tatsächlich verdeckt agierende Geheimagenten, die von Abteilungen der Staatssicherheit in die Bürgerrechtsgruppen und Zeitschriften-Redaktionen eingeschleust wurden, und manchmal ganz plötzlich wieder von der Bildfläche verschwanden, ohne eine nachvollziehbare Spur zu hinterlassen. Auch Tang Xin erwähnt, dass die Dissidenten-Organisation 1980 von Agenten durchsetzt waren.

Überliefert sind auch mehrere Treffen von Demokratieaktivisten, die dem Kommunistischen Jugendverband nahestanden (u.a. Wang Juntao, der bei den Wahlen 1980 an der Peking-Universität kandidierte, und Lü Pu [吕朴] von der Zeitschrift "Forum 5. April") mit Spitzenpolitikern wie Hu Yaobang und Hu Qiaomu. Chefredakteur Xu Wenli vom "Forum 5. April" hat - wie er im Interview berichtet - selbst einmal die Redaktion des KP-Zentralorgans "Volkszeitung" aufgesucht, um dort ein längeres Gespräch mit Vize-Chefredakteur Wang Ruoshui zu führen.

Höhere Funktionäre waren also recht gut über die Positionen der Demokratie-Aktivisten und die Inhalte unabhängiger Wandzeitungen und Publikationen informiert, und die Parteijournalisten, die die Reihen der Demokratiebewegung ausgekundschaftet haben, hegten in einigen Fällen offenbar selbst Sympathien für die Regimekritiker, und meistens waren sie mit den politischen Netzwerken der Reformer verbunden.

Liu Qing (ca. 1979)
Tang Xin (ca. 2015)

Tang Xin (唐欣) und Liu Qing (刘青)

Besonders illustrativ ist die Rolle, die Tang Xin von der "Pekinger Tageszeitung" und seine Kontakte mit Liu Qing vom "Forum 5. April" und anderen Aktivisten gespielt haben, unter anderem deshalb, weil sowohl Tang Xin in seinen 2013 veröffentlichten Erinnerungen ausführlich darauf eingeht (Memories of the Xidan Democracy Wall ... In: Ding Dong, Xing Xiaoqun [Eds.]: How China's Political Reforms of the 80s Came to an Early End. Hong Kong 2015) als auch Liu Qing seine Version dieser Gespräche und Begegnungen veröffentlicht hat (Liu Qing: Tang Xin and the Joint Conference. In: Beijing Spring (USA), February 1995; beide Publikationen auf Chinesisch).

Tang Xin ist der Sohn von Tang Ke, der mehrmals hochrangige Ministerposten bekleidet hat (u.a. Metallurgie- und Erdölminister). Selbst ausgebildeter Techniker, wechselt er 1978 als "Journalist" zur "Pekinger Tageszeitung", und zwar in die Abteilung für interne Publikationen, wie sie jedes große Staats- und Parteimedium hat. Solche Publikationen sind nicht für die Allgemeinheit, sondern für ausgewählte Kreise von Funktionären oder Spitzenpolitikern bestimmt, sie berichten auch über politisch heikle Themen und Details, die in den regulären Medien nicht erwähnt werden.

Ende 1978, so schreibt Tang Xin, habe er in internen Publikationen (die im Haus seines Vaters, des Ministers, offenbar zur Verfügung standen) schon über die Inhalte von Wandzeitungen an der Demokratiemauer gelesen, und er stellte sich die Frage, warum v.a. ausländische Journalisten von der Demokratiemauer berichteten. Er schlug seinem Vorgesetzten vor, selbst einmal die Wandzeitungen an der Xidan-Kreuzung in Augenschein zu nehmen. Die Redaktionsleitung stimmte zu. Zehn Tage lang recherchierte er Anfang 1979 an der „Mauer der Demokratie“, traf führende Dissidenten und verfasste schließlich einen 10.000 Schriftzeichen langen Bericht "Recherchen und Eindrücke von der Demokratiemauer" (民主墙外采访印象记), der im internen Informationsblatt der "Pekinger Tageszeitung" (北京日报内参) abgedruckt wurde.

Tang Xins interner Report über die Demokratiebewegung

Tangs grundlegende Einschätzung in seinen Erinnerungen entspricht wohl auch dem Duktus des ursprünglichen Berichts:

Ich empfand das so: An der Demokratiemauer gab es drei Fraktionen- Die erste, wichtigste, war das "Forum 5. April" rund um Xu Wenli, Liu Qing und Yang Jing. Xu Wenli … war etwa so alt wie Lech Wałęsa, auch Xu hatte unter der Kulturrevolution gelitten, wenn auch nicht sehr stark. Ihr Hauptslogan war, das einfache Volk soll auch die große Politik debattieren. Er vertrat die Stadtbevölkerung, die unterste Schicht der Arbeiterklasse, die Forderung, den schwachen Teil der Bevölkerung an der Politik mitdebattieren und mitwirken zu lassen. Die zweite Fraktion waren die Linken, an der Demokratiemauer war das die Zeitschrift "Pekinger Frühling". Chefradakteur war Zhou Weimin, ein ZK-Mitglied des Jugendverbandes, Vize-Chefredakteur war Wang Juntao, ZK-Ersatzmitglied. Daneben gab es noch Lü Jiamin, und von den elf Redaktionsmitgliedern waren rund neun Söhne von hochrangigen Kadern. Und fast alle waren sie "Helden des 5. April" [Aktivisten der Tiananmen-Proteste von 1976]. Sie wussten über das Dritte Plenum und die Arbeitskonferenz der Parteiführung ganz gut Bescheid, und genau betrachtet, vertraten sie die radikalste Linie innerhalb der Partei. Die dritte Fraktion stand rechts, das war Wei Jingsheng. Wei war in der Öffnung seines Denkens am weitesten, seine Zeitschrift "Erkundungen" schlug die "Fünfte Modernisierung" vor. "Vier Modernisierungen" ohne politische Modernisierung war für ihn nicht denkbar. Und er lehnte jeden Personenkult ab und sorgte sich, dass ein Personenkult um Deng Xiaoping entsteht, von Wang Dongxing und Hua Guofeng ganz zu schweigen. (Tang, S. 9)

Liu Qing, offenbar ein besonders wichtiger Gesprächspartner von Tang Xin, glaubte daran, dass die Analysen solcher "Journalisten"durchaus positiven Einfluss auf die Meinung der chinesischen Führung ausübten, anders als die Dossiers der Staatssicherheit (alle folgenden Zitate stammen aus seinen in der US-Ausgabe von "Beijing Spring" veröffentlichten Erinnerungen "Tang Xin and the Joint Conference" von 1995):

Obwohl es sich um interne Berichte handelte, waren sie anders als die nach oben weitergeleiteten Reports der Polizei oder der Sicherheitsbehörden. Diese haben über uns so berichtet, als ob es sich um Feindaufklärung handelte, während der Ton in den internen Medien zwar auch nicht voller Lobes war, aber insgesamt doch objektiv und gerecht. In den internen Publikationen konnte nicht jeder beliebige Reporter schreiben, dafür gab es immer einen Auftrag. Was an der Demokratiemauer passierte, erschien wichtig. Die Leute, die Kontakt zur Demokratiemauer hatten, waren äußerst fähig und einflussreich. Wenig später konnten wir diesen Bericht auch lesen. Und schon in seinem ersten Satz hat der Reporter über seine Teilnahme an der gemeinsamen Redaktionskonferenz geschrieben, dass er sich fühlte, als hätte er den Mond betreten, eine völlig andere Welt. (Liu Qing)

Liu Qing sagte auch im Interview mit dem Autor, dass er den Bericht Tang Xins zwar nicht besitzt, ihn aber damals lesen konnte. In den 1995 verfassten Erinnerungen rekapituliert er noch etliche Details, wie Tang Xin 1979 über die Demokratiebewegung geurteilt hatte:

Neben der Beschreibung der Organisationen war der Schwerpunkt in Tang Xins Artikel die Vorstellung der einzelnen Akteure. Es gab mehr als zehn Personen, denen er in seinem Text jeweils einen ganzen Absatz widmete. Vom "Forum 5. April", erinnere ich mich, waren das ich selbst und Xu Wenli, von der Zeitschrift "Pekinger Frühling" Han Zhenxiong, Wang Juntao und Zhou Weimin, speziell erwähnt wurde auch der noch ganz junge Lin Gang, von "Heute" wurde über Bei Dao und Mang Ke berichtet, weiters auch über Wei Jingsheng und Ren Wanding. Für die Leute vom "Pekinger Frühling" hatte er lobende Worte, nannte sie Helden vom Tiananmen, den Ereignissen des 5. April [1976], und er fügte hinzu, dass unter den Mitarbeitern einige Mitglieder und Kandidaten des ZK des Jugendverbandes waren, dass sie aus höheren Kaderfamilien kamen und den Stallgeruch und Hintergrund der Politik besaßen. Sie verträten auch einen klaren Standpunkt und wären den strategischen Vorhaben der Führung immer um ein paar Schritte voraus. Die Beschreibung der Mitarbeiter der anderen Zeitschriften und Organisationen war etwas unbestimmter, zu uns vom "Forum 5. April" meinte er, wir seien überwiegend Arbeiter, die gerne organisatorische Tätigkeiten ausübten, ohne ideologische und theoriemäßige Besonderheiten. Tang Xins Artikel stützte sich offenbar auf einen bestimmten Eindruck, die Realität begriff er kaum. Das "Forum 5. April" bestand für ihn nur aus den Mitgliedern der zentralen Redaktion, aber es gab etliche andere fähige Schreiber, und auch unter den landesweiten Korrespondenten des "Forum 5. April" fanden sich einige hervorragende Autoren wie Wang Xizhe, Chen Erjin, Sun Feng oder Xu Shuiliang, die besten Autoren und Theoretiker der Demokratiemauer standen meist in Beziehung zum "Forum 5. April". Trotzdem war es richtig, wenn Tang Xin davon sprach, dass das "Forum 5. April" überwiegend aus Arbeitern bestand. Tang Xin war selbst Sohn eines hohen Funktionärs, und er hat Ideen und Meinungen aus dem gleichen Umfeld viel leichter verstanden. Einiges in seinem Artikel gibt sehr zu denken, Leute, die er nicht als reaktionär oder gefährlich einstuft, lachten darüber, aber der alte Wei (Jingsheng) und der alte Ren (Wanding) fühlten sich unwohl. Denn auch einige Leute haben nicht nur hinterrücks so geredet. Ich erinnere mich, einmal bei der Gemeinsamen Konferenz wurden Wei Jingsheng, Ren Wanding und Lu Lin lautstark angeschrien, sie könnten jetzt berühmt werden, nachdem sie auf der Liste bourgeoiser und reaktionärer Elemente seien, in dem internen Bericht, der dem Politbüro des Zentralkomitees übergeben wird. Wei Jingsheng und Ren Wanding waren eher sehr betroffen und nicht wirklich belustigt und erpicht diesen internen Bericht. ... Nach meinem Gefühl hat dieser intern publizierte Bericht einige Leute sehr provoziert hat und sie zu noch heftigeren und weittragenderen Reaktionen gebracht. ... Die internen Berichte lieferten den Behörden nur ein sehr vages Bild, sicher kein Signal zur Repression. Wichtiger erschien den Behörden damals wahrscheinlich eine Einflussnahme auf die Demokratiebewegung bis hin zu einem Deal mit ihr. (Liu Qing)

Die ersten Treffen mit den Aktivisten

Zurück zum Anfang dieser etwas ungewöhnlichen Begegnungen: Tang Xin spricht die ersten Besuche an der Mauer mit seinem unmittelbaren Chef Wang Fengyu (王丰玉) ab, einem Vertrauten von Hu Yaobang. Und er fragt sich, wie er von den Dissidenten empfangen würde, und trifft Vorkehrungen:

Als ich das erste Mal zur Demokratiemauer ging, war ich sehr besorgt. An der Mauer fand ich damals eine Ausgabe des "Forum 5. April", einer der großen Publikationen. Darauf war eine Kontaktadresse angegeben, Dong Si Shi Tiao, Liu Qings Wohnung. Ich habe die Adresse auf einen Zettel notiert, ihn meiner Schwester gegeben und ihr gesagt: Für den Fall, dass ich nicht zurückkommen kann, rufe sofort Onkel Lin an [Pekings Bürgermeister und Parteichef Lin Hujia], damit er mich retten kann. Doch als ich zu ihm kam, war Liu Qing äußerst herzlich zu mir. Das war der Beginn meiner Kontakte zur Demokratiemauer, die mehrere Monate gedauert haben. Ich habe 125 Personen kennengelernt, darunter Gu Xiang (die Schwester von Gu Cheng) [Gu Cheng 顾城, bekannter Lyriker und Romancier, 1946-1993], Lü Pu [吕朴, leitender Redakteur des "Forum 5. April" aus einer Politikerfamilie], Lü Jiamin (das ist Jiang Rong, der Autor von "Wolf Totem"), Zhou Weimin, Wang Juntao, Xu Wenli, Wei Jingsheng, Zhao Zhenkai (Bei Dao), Jiang Shiwei (Mang Ke), Hu Ping von der Zeitschrift "Wotu" (Fruchtbarer Boden) und die Leute um Jiang Hong [姜洪, bekannter Wirtschaftsprofessor]. (Tang, S. 8-9)

Liu Qing beschreibt die erste Begegnung in seinen Erinnerungen so:

Tang Xin klopfte kurz an der Tür, machte sie auf und trat ein. Ich war gerade im Gespräch mit Lin Gang von der Zeitschrift "Pekinger Frühling". Lin Gang war erst neunzehn, und so wie die anderen vom „Pekinger Frühling“ besaß er zwei Eigenschaften: Er kam aus einer Kaderfamilie, und er war wegen der "Bewegung des 5. April" von 1976 verhaftet und eingesperrt worden. Bei mir war er als Vertreter des "Pekinger Frühling" für die "Gemeinsame Konferenz", ich traf ihn das erste Mal, und wir hatten mehr als eine Stunde gesprochen. Tang Xin sah uns an und fragte, wer denn nun Liu Qing von der Gemeinsamen Konferenz sei. Er stellte sich als Journalist der "Pekinger Tageszeitung" vor, zog sogar einen Presseausweis hervor, um ihn mir zu zeigen, und sah uns lächelnd an, nicht prahlend, sondern mehr, um sich offen zu zeigen und unser Vertrauen zu gewinnen. Dass er uns aufsuchte, gehörte zu seiner Arbeit, nicht wie andere Funktionäre, die so taten als kämen sie privat, um mit uns zu reden.

Tang Xin sagte, die ganze Welt redet über die Mauer der Demokratie, die chinesischen Medien würden hingegen die Augen verschließen, nichts wahrnehmen und nichts fragen, was eine etwas groteske Situation ergäbe. Er hoffe, dass die Informationen nicht nur von den Ausländern abhingen, er sei gekommen, um etwas über die Situation zu erfahren, ohne weitere Hintergedanken, da brauche man sich keine Sorgen zu machen. Ich wusste nicht, warum er das so formuliert hat, es schien, als ob er mir genau das Gegenteil mitteilen wollte. Wie immer es gemeint war, es konnte meine Haltung nicht beeinflussen. Wir hatten immer wieder von Agenten gehört und schon früher intern darüber diskutiert, wollten aber offen und transparent sein, selbst wenn die Polizei käme, wollten wir sie so empfangen. Das habe ich auch Tang Xin gesagt. Er drehte sein fahles Gesicht zu mir und sagte nur "Ist das so?". Trotzdem schien er nicht überrascht. Tang Xins Interesse war sehr breit gefächert, er sprach mit mir über die Demokratiemauer, über aktuelle Tendenzen in der Gesellschaft, die Eigenheiten der inoffiziellen Zeitschriften, und wer die jeweiligen Mitarbeiter waren. Trotzdem fiel mir auf, dass er sehr genau zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterschied, sein eigentliches Interesse galt den verschiedenen Zeitschriften und ihren hauptsächlichen Mitarbeitern.

Ich dachte, wenn das so ist, dann könnte ich dafür sorgen, dass er unsere Offenheit und Transparenz zu spüren bekommt. An jenem Abend war gerade ein Treffen der Gemeinsamen Konferenz geplant, falls es ihn interessiere, könne er dabei zuhören. Diesmal hob er seine beiden Augenbrauen und sagte "Wirklich?". (Liu Qing)

Offenheit und Skepsis

Liu Qing lädt den Vertreter der "Pekinger Tageszeitung" jedenfalls ein, an der Gemeinsamen Konferenz der Redaktionsvertreter der verschiedenen unabhängigen Zeitschriften teilzunehmen, in der - vor allem seit der Festnahme der Aktivistin Fu Yuehua - die Dissidenten ihre Linie untereinander abstimmen:

An diesem Abend waren besonders viele Teilnehmer gekommen, manchmal zwei von einer Zeitschrift, von "Erkundungen" waren zum Beispiel Lu Lin und Wei Jingsheng da, vom "Forum 5. April" außer mir auch noch Yang Jing, und auch manche Leute, die gar nicht eingeladen waren. Lin Gang habe ich gesagt, dass ich auch andere Vertreter der Zeitschrift "Pekinger Frühling" eingeladen hatte, aber nur Lin Gang war gekommen. Einige kamen schon vor dem üblichen Beginn der Sitzung. Als ich die Teilnehmer informierte, dass ich jemanden eingeladen hatte, wollte ich ihnen vor dem ersten offenen Kontakt mit einem Behördenvertreter noch die Situation erklären. In der Geschichte der Kommunistischen Partei hätten Journalisten der Xinhua-Nachrichtenagentur in besonderen Situationen oft heikle Missionen ausgeübt. Weil dies die erste Begegnung war, müssten wir uns also auf Debatten einlassen.

Dass ich aus eigener Initiative einen Offiziellen eingeladen hatte, rief bei den meisten eher Interesse als Besorgnis hervor, ich erinnere mich, dass es so gut wie keine Bedenken gab. Wir dachten Folgendes: Wird Tang Xin, so wie er selbst gesagt hatte, über die Demokratiemauer und die Gemeinsame Konferenz recherchieren, um dann in der Zeitung einen objektiven Artikel zu veröffentlichen, und ist sein Erscheinen bei uns von den politischen Kräften einer bestimmten Fraktion angeordnet worden. Wir waren ein wenig aufgeregt, sogar zufrieden und glücklich, dass unsere vom Volk betriebenen Zeitschriften und Organisationen endlich eine gewisse Wertschätzung erfuhren, was auch eine große Möglichkeit der Weiterentwicklung implizierte. Einige sagten, überlegt einmal, wenn die Zeitungen über uns schreiben, was könnte dann aus unseren Artikeln werden?

Tang Xin erschien über eine Stunde später als ausgemacht, er sagte, er wollte uns damit Gelegenheit geben, vor seinem Kommen ausgiebig zu diskutieren, ob wir ihm wirklich erlauben würden, bei der Gemeinsamen Konferenz zuzuhören. Verschmitzt fügte er hinzu, er wollte mehr Zeit lassen, damit wir über seine Einstellung und die Inhalte, die man debattieren wollte, noch reden konnten. Es schien, als ob er noch mehr und bizarrer überlegte als wir, und das hatte wohl seine Gründe und Berechtigung. Er legte seinen Mantel ab, zog sofort nochmals seinen Journalistenausweis hervor, um ihn jedem einzelnen Teilnehmer zur Ansicht zu geben. Viele fühlten sich etwas überrumpelt, hielten den Ausweis nur kurz in der Hand, einige meinten sogar, "Haben wir ihnen etwa nicht genug geglaubt?". Allerdings war nicht bei allen die Verlegenheit größer als die Neugier. Als einer den Ausweis an Tang Xin zurückgeben wollte, unterbrachen ihn Wei Jingsheng und Lu Lin, die ganz am Rand des Bettes saßen. Lu Lin streckte seine Hand nach dem Ausweis aus, hielt ihn nicht nur fest, sondern drehten ihn auch um, um sich Vorder- und Rückseite genau zu studieren. Und sie stellten Tang Xin tatsächlich noch zwei Fragen, natürlich lächelnd und ganz unschuldig, ob denn der Journalistenausweis etwa erst vor ganz kurzem ausgestellt wurde, und ob er denn ein Journalist der Abteilung für "interne Publikationen" sei. Ich begann mich etwas unwohl zu fühlen, aber Tang Xin blieb ruhig, redete und scherzte einfach weiter mit den Vertretern anderer Organisationen, und schien die besondere Aufmerksamkeit von der gegenüberliegenden Seite für seinen Journalistenausweis fast gar nicht zu bemerken. Das unschuldige Nachfragen störte jedenfalls nicht seine Rede, sondern er antwortete kurz, als sei dies die natürlichste Sache der Welt. Es kam keine Verlegenheit auf, und ich hielt das für ein gutes Omen, dass alles reibungslos verlaufen würde.

In Wirklichkeit war Tang Xin natürlich nicht so wie er sich gab. Dass Wei Jingsheng und Lu Lin seinen Ausweis genauer inspizierten, war ihm natürlich gar nicht recht. In seinem internen Bericht, den er dann für die Führung schrieb, beschäftigte er sich einen ganzen Absatz lang mit diesem Vorgang, und obwohl Tang Xin schlussfolgerte, die Leute von der Zeitschrift "Erkundungen" seien eben zurückhaltend, während ihm die Vertreter anderer Publikationen und Organisationen sehr leicht ihr Vertrauen geschenkt hätten, so meint er doch, dass diese Worte und vielleicht auch andere Dinge eine Haltung gegenüber der Regierung ausdrückten, dass die Mitarbeiter von "Erkundungen" gegenüber Regierungsvertretern tiefes Misstrauen hegten, anders als die Vertreter der anderen Zeitschriften und Organisationen, die nur wenig oder gar kein Misstrauen zeigten. Das war natürlich noch nicht ein formelles Urteil über "Erkundungen". In seinem internen Artikel schrieb Tang Xin auch noch eine offizielle Beschreibung der Zeitschrift, er ordnete sie als extrem und problematisch ein. Das unterschied sich zwar nicht viel von dem, was wir selbst meinten, aber der Unterschied bei der Klassifizierung in verschiedene Kategorien war, dass wir die erste Kategorie als "extrem" bezeichneten, während sie für Tang Xin nicht nur "extrem" war, sondern auch eine bourgeoise und reaktionäre Ideologie und eine gefährliche Tendenz repräsentierte. Zu dieser Kategorie gehörten für ihn auch noch Organisationen wie die "Chinesische Allianz für Menschenrechte". Die Zeitschriften, die Tang Xin am besten gefielen, waren "Pekinger Frühling" und "Fruchtbarer Boden", für die er beinahe offen lobende Worte verwendete. Auch für "Heute" hatte er in seinem Artikel Lob übrig, er sprach von einem "Beitrag" und einer "Leistung" für Literatur und Kunst. Die anderen Zeitschriften und Organisationen des Volkes stufte er in einem in seinem Wesen unklaren Graubereich ein. (Liu Qing)



Festnahme des Bürgerrechts-Aktivisten Ren Wanding (Mitte, mit Brille) von der Zeitschrift "Menschenrechte in China" an der "Mauer der Demokratie" (4. April 1979)

Tang Xin als Vermittler

In den eigenen Erinnerungen hat Tang Xin seine Urteile über die Demokratiebewegung wohl ein wenig geschönt oder zumindest in einen positiven Kontext gestellt, bzw. kritische Schlussfolgerungen unerwähnt gelassen. So habe er sich in einem Gespräch mit Lin Hujia gegen eine Verhaftung Wei Jingshengs gewandt, schreibt er (S. 11), auch als am 5. April 1979 [4. April?] Ren Wanding verhaftet wurde, habe ihm die Szene überhaupt nicht behagt:

Im März wurde Wei Jingsheng verhaftet, am 5. April Ren Wanding, wegen seines "Manifests für Menschenrechte". Das war ein wenig übertrieben. Die Leute waren da, um gegen die Verhaftung von Wei Jingsheng zu protestieren. Ich war an diesem Tag vor Ort, Polizisten in Zivil, in Sportschuhen, aber mit Straßenkleidung darüber, waren gekommen, um die Menge aufzumischen, sie drängten die Leute der Demokratiemauer direkt auf eine ausländische Journalistin zu. Als ich wegging, hatte ich gerade nichts anderes zu tun, so ging ich direkt in das Büro von Lin Hujia. Ich habe etwa so zu ihm geredet: "Wie kann es sein, dass ihr am helllichten Tag Leute schickt, um einen Tumult auszulösen und uns vor der ganzen Welt vorzuführen. Damit verlieren wir doch einfach unser Gesicht?" Lin Hujia war so zornig, dass er auf den Tisch schlug und heftig auf das Amt für Sicherheit schimpfte. Das war wohl auch ein Grund, warum das Sicherheitsbüro eine Untersuchung gegen mich einleitete. (Tang, S. 12-13)

Tang sieht sich also selbst als "Opfer", weil er diese Kontakte zu den Dissidenten aufgenommen hatte. Im Herbst 1979 wird er nach eigenen Angaben zum Objekt dieser Untersuchungen durch die Sicherheitsbehörden:

Damals änderte die Führung ihren Ton, die Demokratiemauer wurde untersagt, auch die "Vier Großen Freiheiten" [u.a. Meinungsäußerungen und das Verfassen von Wandzeitungen, wie ursprünglich in der Verfassung verankert] gab es nicht mehr. Seit der Verlegung der Demokratiemauer in den Yuetan-Park war sie nur mehr wenig frequentiert, erst im Oktober erlebte sie nochmals einen Aufschwung. Damals bereitete das Amt für Öffentliche Sicherheit schon Material gegen mich vor, einen so dicken Ordner. In praktisch allen Organisationen der Demokratiemauer saßen Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden, vielleicht waren sie nicht sehr gebildet, sie hatten einen so dicken Ordner verfasst, mit dem Titel "Die illegalen Aktivitäten des Journalisten Tang Xin von den Internen Informationen der Pekinger Tageszeitung", den sie an die übergeordneten Behörden schickten. Zunächst an das Parteikomitee des Pekinger Amtes für Öffentliche Sicherheit, dann an das Stadtkomitee, bis er auf dem Schreibtisch von Lin Hujia landete. Lin Hujia erzürnte, schlug auf den Tisch und rief den Sicherheitsdirektor zu sich. Er schimpfte: Ihr geht auf die eigenen Leute los, ich habe ihn nämlich selbst geschickt. (Tang, S. 12)

Tauziehen um die Verlegung der Demokratiemauer

In dem Interview, auf dem dieser Artikel aus der Hongkonger Publikation beruht, versucht Tang immer wieder, nicht nur seine eigene Wahrnehmung der Demokratiebewegung positiv darzustellen, er bemüht sich ganz offenbar auch, die Einstellung konservativer Funktionäre ein wenig schönzufärben. Deng Liqun, Hu Qiaomu oder Lin Hujia waren nicht gerade als Freunde des "Pekinger Frühling" bekannt. In einer Debatte mit Hu Qiaomu, die es offenbar über die erzwungene Verlegung der Wandzeitungsmauer von der belebten Xidan-Kreuzung in den abgelegenen Yuetan-Park gab, wird dies auch deutlich:

Ich kam in seine Wohnung, wir redeten zwei Stunden. Er sagte, die Demokratiemauer sei zwar eine gute Sache, aber so mitten auf der Straße würde an der Xidan-Kreuzung etwas Durcheinander entstehen, und der Verkehr leicht gestört werden. Er meinte zu mir, gehen sie nachher zur Pekinger Stadtverwaltung, reden sie mit dem Genossen Lin Hujia, ob man nicht den Arbeiter-Kulturpalast als Demokratiepark öffnen könnte, als chinesischen Hyde Park. ... Am nächsten Tag habe ich mit Lin Hujia telefonisch einen Termin vereinbart. Lin meinte, der Arbeiter-Kulturpalast sei neben dem Tiananmen, das sei doch auch zu auffällig. Wenn zu viele Leute kommen, würde das doch auch den Verkehr beeinträchtigen? Er hat vorgeschlagen, die Mauer in den Yuetan-Park zu verlegen. Kurz danach wurde die Demokratiemauer in den Yuetan-Park übersiedelt. Ich habe das dann Liu Qing und den anderen besprochen, ihm den Vorschlag mitgeteilt. Liu Qing hat bis zuletzt nicht verstanden, in wessen Auftrag ich das tat. (Tang, S. 11)

Aus Liu Qings Sicht war der Vorschlag Tang Xins allerdings nicht ganz ehrlich gemeint, so schildert jedenfalls Liu Qing den Verlauf dieses Gesprächs:

So wie er es normalerweise tat, stellte Tang Xin der neuen Idee einige Erklärungen voran. Diesmal erläuterte er nicht nur ernst und nachdrücklich, dass das rein sein eigener Gedanke sei, dass er damit in niemandes Namen spreche und von niemandem anderen beauftragt sei, sondern er erklärte auch langatmig die Vorteile und Notwendigkeit einer Übersiedlung der Demokratiemauer. Das Gespräch dauerte auch relativ lange, im wesentlich hat Tang Xin folgende Punkte hervorgehoben: Die Demokratiemauer sei nicht langfristig angelegt, sie liege an einer Hauptverkehrsader, die Leute kämen ganz ungeordnet, Beschwerdeführer und Schaulustige wären in de Mehrheit, langfristig würden Verkehr und soziale Ordnung gestört, sie sei auch ein Schandfleck für das Stadtbild und das Aussehen des Landes, kein Staat könne erlauben, dass so etwas langfristig existiert; ganz am Anfang hätte man die Demokratiemauer auch einen Hyde Park genannt, in dem über Politik diskutiert wird, einen Ort, an dem man frei seine Meinung äußern konnte, daher müsse man wie beim Hyde Park auch einen ruhigen Ort suchen, an dem man frei debattieren und Reden halten könnte, am besten also einen Park. Ganz am Schluss meinte Tang Xin, dass er den Yuetan-Park für einen geeigneten Ort halte ... 

Auch ich sah eine gewisse Logik in dem, was Tang Xin sagte, ... aber hinter Tang Xins Worten verbarg sich eine ganz klare Absicht, die mich irritierte. Ich antwortete, die Pekinger Demokratiemauer sei für ganz China da, natürlich stünde ihre Existenz in einem starken Zusammenhang mit dem Verkehrsfluss und den Menschenmassen, aber die Übersiedlung an einen ruhigen, abgelegenen Ort würde es für Leute von auswärts schwer machen dort hinzukommen, und auch die Pekinger hätten nicht immer genug Zeit und Kraft dafür, in der Praxis würde das das Ende der Demokratiemauer bedeuten. ... Ich machte daher einen leicht abgewandelten Vorschlag, nämlich die Demokratiemauer in den Kulturpalast östlich des Tiananmen, oder in den Sun-Yatsen-Park westlich davon zu verlegen, und den Ort in einen Park mit kostenlosem Eintritt umzuwandeln, das würde die Nachteile des Vorschlags von Tang Xin beheben, und die weitere Existenz der Demokratiemauer sichern. (Liu Qing)

Trotz seiner Skepsis versprach Tang Xin, den Vorschlag weiterzuleiten. Und Liu Qing hat den Vorschlag den anderen Gruppen und Vertretern der Bewegung zur Kenntnis gebracht. Die heftige Debatte, die folgte, war jedoch überwiegend ablehnend, vor allem Ren Wanding, Wei Jingsheng und die Vertreter der "Gesellschaft für Aufklärung" waren strikt gegen die Verlegung der Wandzeitungsmauer:

Dann wurde allerdings darauf gepocht, dass die Demokratiemauer unter keinen Umständen von der Xidan-Kreuzung weg verlegt werden sollte, das wäre eine Falle, mit der wir uns selbst ein Grab schaufeln. Begründet wurde diese Aussage damit, dass das einen Bruch mit der ganzen Vorgeschichte und den Leuten von der Basis bedeutete, man könnte sie nicht mehr als "Mauer der Demokratie" bezeichnen. Die vielen Menschen, die zur Demokratiemauer strömten, auch Ausländer und solche aus anderen Regionen China, aber auch Leute aus Peking, würden nicht mehr wissen, wo sie uns finden, und wir müssten ganz von vorne anfangen. ... Tang Xin nahm diese Nachricht schweigend auf, er hatte offenbar schon damit gerechnet. Etwa acht, neun Monate später, ein paar Tage, nachdem ich vom Pekinger Sicherheitsbüro grundlos festgenommen wurde, beschloss der Ständige Ausschuss des Volkskongresses die Abschaffung der "Vier Großen Freiheiten". Die Frage der Demokratiemauer wurde dem Ständigen Ausschuss des Volkskongresses der Stadt Peking übertragen, der unverzüglich beschloss, die Xidan-Demokratiemauer zu schließen bzw. in den Yuetan-Park zu verlegen. Tang Xins "rein persönlicher Vorschlag" zu Beginn des Jahres, wurde zu Jahresende von der Stadt Peking auf Anordnung der Zentralregierung mit aller Macht umgesetzt. Was sich geändert hatte, war dass sich die Demokratiebewegung nun in keiner vorteilhaften Ausgangslage für Verhandlungen und Kompromisse mehr befand. (Liu Qing)

Noch in einer anderen Sache sah sich Tang Xin berufen zu vermitteln. Er wollte Kontakte zwischen gemäßigten Demokratieaktivisten und Politikern herstellen, konkret - so sagte er - hätte er Gespräche der ZK-Mitglieder Hu Qiaomu und Hu Yaobang mit den Aktivisten Wang Juntao und Lü Pu von den Zeitschriften "Pekinger Frühling" und "Forum 5. April" eingefädelt:

Ich sprach mich damals für einen Dialog der zentralen Führung mit ihnen aus. Mein Vorschlag war, dass Wang Juntao und Lü Pu zum Genossen (Hu) Qiaomu in seine Wohnung kommen sollten. Genosse (Hu) Qiaomu hat sie unverzüglich empfangen. Wang Juntao und Lü Pu haben ein sehr gutes Gespräch mit Genossen (Hu) Qiaomu geführt und etwa zwei bis drei Stunden geredet. Lü Pu wollte auch noch mit (Hu) Yaobang reden, ob es dazu gekommen ist, weiß ich nicht. Die Führung hatte die Absicht, die Probleme durch Dialog zu lösen, und die positive Einstellung der Leute zur Demokratie auch für den Kurs der Partei nutzen. Ich glaube aber, dass sich Wei Jingsheng zu weit entfernt hat. Die Autorität von Deng Xiaoping zu diesem Zeitpunkt in Frage zu stellen, war sicher kein gangbarer Weg. Man muss das aus der Geschichte heraus sehen. Wenn man Wei Jingsheng aus heutiger Sicht beurteilt, dann war er wahrscheinlich fortschrittlich. Aber damals hätte es ohne die "Vier Grundprinzipien" den Kurs der Reform und Öffnung nicht gegeben. (Tang, S. 13)

Wang Juntao und Hu Yaobang

In seinem Interview bestätigt Wang Juntao das Gespräch mit Hu Qiaomu zur Zeit der Demokratiemauer, hat dieses Zusammentreffen allerdings in eher schlechter Erinnerung:

Ich habe ein Mal mit Hu Qiaomu gesprochen, er war ziemlich übel. Als ich in seiner Wohnung mit ihm redete und sagte, man müsse die Korruption ausmerzen, meinte er: "Korruption hat es in allen Dynastien gegeben, die wird man nicht beseitigen können, das braucht man auch nicht." (Interview mit Wang Juntao)

Er habe auch Gespräche mit anderen Politikern gehabt, fügt Wang Juntao hinzu. Zu seinen Studienkollegen an der Peking-Universität zählten damals (1980) auch der heutige Ministerpräsident Li Keqiang und der 2012 aus dem Politbüro gesäuberte (und im Jahr darauf zu lebenslänglicher Haft verurteile) frühere Parteichef und Bürgermeister von Chongqing, Bo Xilai (薄熙来). Auch mit dessen Vater, dem Altrevolutionär Bo Yibo (薄一波), hatte Wang eine persönliches Zusammentreffen, aber den tiefsten Eindruck habe damals eine Begegnung mit Hu Yaobang hinterlassen.

Ich mochte und schätzte Hu Yaobang sehr. Nach chinesischen politischen Standards war er noch nicht sehr reif, es war für seine politischen Gegner leicht ihn zu attackieren. Ich glaube, Deng Xiaoping wollte ihn fördern und unterstützen, aber mir fiel auf, dass er ihn nicht leicht kontrollieren konnte, weil er zu offen redete. ... Wir haben mehrere Stunden miteinander gesprochen. Ursprünglich waren 15 bis 30 Minuten für unser Gespräch vorgesehen. Nachher gefiel ihm die Konversation so sehr, dass daraus mehrere Stunden wurden. Er sagte, dass er an dem Tag wegen Zahnschmerzen zuhause blieb, ich glaube, dass er daheim geblieben und nicht ins Büro gegangen war, weil er in Wirklichkeit mit uns reden wollte. Vor Beginn traf ich seinen Sekretär, ich hatte mich als Vize-Chefredakteur der Zeitschrift "Pekinger Frühling" angemeldet, aber der Sekretär meinte: "Das ist vielleicht nicht so passend. Nennen wir es so, es ist ein Gespräch zwischen der älteren und der jüngeren Generation." So ging ich dann hinein. Wir haben über vieles geredet, kurz gefasst habe ich gesagt, dass ich hoffte, dass China Reformen durchführt, dass es keine politische Verfolgung mehr gebe, dass es nie mehr zur Zeit der Kulturrevolution zurückkehre. ...

Ich habe ganz klar gesagt, dass ich gegen die Inhaftierung von Wei Jingsheng war. Hu Yaobang hat mir dazu keine Antwort gegeben. Er hat einen Bericht des Parteikomitees der Provinz Guizhou hervorgezogen und gesagt: "Schauen Sie, das Provinzkomitee von Guizhou hat die Festnahme von Huang Xiang von der "Gesellschaft für Aufklärung" veranlasst und ihn dann aus humanitären Überlegungen wieder freigelassen. Ich bin dafür, dass man Probleme auf diese Weise löst. Er sei gegen politische Verfolgung. Ich meinte dann: "Sie müssen politische Reformen machen." Er darauf: "Ich möchte Reformen, so sehr dass sogar mein Zahn schmerzt, und ich nicht schlafen kann, weil ich ständig überlege, wie China reformiert werden soll. Aber Reformen sind nicht so einfach wie junge Leute wie Sie sich das vorstellen. ...

Später sagte er noch zu mir: "Ihr jungen Leute habt drei Vorteile: Erstens, Ihr habt Ideale; zweitens, Ihr seit gut gebildet; und drittens, Ihr besitzt die Leidenschaft und Energie, um Dinge auch umzusetzen. Aber Ihr habt auch zwei Nachteile, erstens Ihr seid nicht realistisch, Ihr geht nicht von den Realitäten aus, wenn Ihr überlegt was zu tun ist, Ihr meint nur, so oder so muss man das machen; zum zweiten, seid Ihr zu ungeduldig und besorgt." Er meinte, vieles werde aus solcher Sorge heraus oft schlecht gemacht. Das Gespräch mit Hu Yaobang machte damals großen Eindruck auf mich. Ein Grund, warum ich mich sehr lange nicht gegen die Kommunistische Partei gestellt habe, war dass es innerhalb der Partei Reformer wie Hu Yaobang gab. ... (Interview mit Wang Juntao)

Über seine Meinung zur Demokratiebewegung habe er Hu Yaobang nicht direkt gefragt, sagt Wang Juntao, er wollte vielmehr Anregungen zum Nachdenken, mit der Kommunistischen Partei einen Dialog führen und sie für Reformen motivieren und dafür auch konkrete Vorschläge machen. Doch auf Hus Nachfrage merkte er, dass er nicht wirklich sehr konkrete Überlegungen zu präsentieren vermochte. Später habe er mit ansehen müssen, dass Reformer wie Hu Yaobang und Zhao Ziyang im autokratischen System Chinas keine Chance hatten.

Demokratieaktivisten in den Kommunistischen Jugendverband?

Ein interessantes Kapitel, das bis heute nicht in allen Details klar ist, ist der offenbar ernst gemeinte Vorschlag, zumindest einen Teil der Demokratiebewegung in die offiziellen politischen Strukturen einzubinden, und zwar in den Kommunistischen Jugendverband, der ohnehin den Reformern um Hu Yaobang nahestand. Immerhin gab es auch eine Zeitschrift, "Pekinger Frühling", die Bindungen zu dem Verband hatte, und deren wichtigste Redakteure auch Funktionen in der Führung des Jugendverbandes ausübten. Liu Qing begriff offenbar sehr rasch, dass Tang Xin die Absicht oder auch einen Auftrag hatte, zumindest einige der Aktivisten anzuwerben:

Es war letztlich Tang Xin, der der Gemeinsamen Konferenz ganz klar eine Zusammenarbeit anbot und versuchte, sie zu beeinflussen. Es gab zwar auch andere Leute, die uns zu verstehen gaben, dass sie gute Kontakte zu den Behörden hätten, dass sie, falls wir zu bestimmten Veränderungen bereit wären, sogar als direkte Vermittler zu Deng Xiaoping fungieren könnten. Aber es gab nur wenige, die ihre offizielle Funktion einbekannten und klarstellten, dass ihr Kontakt mit der Gemeinsamen Konferenz Teil ihrer Arbeit war, und einer davon war eben Tang Xin. Interessanterweise hat Tang Xin dabei oft genau das Gegenteil erklärt, aber ich selbst habe das so verstanden. Nach etlichen planlosen Interviews hielt er zum Erstaunen aller oft inne, seine Stimme wurde ernst, und er sagte: "Ich habe eine Idee, die ich mir selbst überlegt habe. Das kommt bitte nicht von irgendeinem Politiker oder einer Behörde, sondern ich selbst habe nach den vielen Kontakten mit euch diese Idee gehabt. Vielleicht klingt das sehr absurd, aber ich möchte euch trotzdem fragen." Während solcher ausführlicher Erklärungen beobachtete er mich immer ganz genau. Natürlich war ich neugierig, ich wusste, dass er etwas Wichtiges mitteilen wollte, aber seine vielen umständlichen Erklärungen führten dazu, dass ich manchmal nicht verstand, was er wirklich wollte. Sollte ich das, was er sagte, einfach wichtig nehmen, oder sollte ich es wirklich glauben. Lachend nickte ich und sagte zu ihm, auch ich hätte oft ein wenig skurrile Ideen, sagte ihm aber nicht, dass ich diese Ideen anderen nicht erzählen würde. Tang Xin meinte schließlich, wie wäre es, falls du und einige andere von der Demokratiemauer, die einen gewissen Einfluss und Autorität auf die Jugend ausübten, Posten im Zentralkomitee des Jugendverbandes bekämen, um dort Jugendarbeit zu machen. Einerseits könnten wir uns also weiter mit den Angelegenheiten Chinas befassen und unseren Mut offen zu reden und zu handeln zeigen, andererseits wäre das durch eine Organisation unterstützt und koordiniert. Wenn uns das ZK des Jugendverbandes also einen Ort böte, wo wir nützlich sein könnten, wie würden wir darüber denken.

Das kam völlig unerwartet. Außerdem stand es überhaupt nicht im Einklang mit den Zielen, mit denen ich mich der Demokratiebewegung angeschlossen hatte. ... Daher dachte ich über Tang Xins Vorschlag gar nicht viel nach, sondern lehnte ihn rundweg ab. Ich sagte, ich hätte mich der Demokratiemauer angeschlossen, weil ich keine Einschränkungen und Verpflichtungen wollte. Nachdem Tang Xin das gehört hatte, war er etwas verlegen. ... Dass er diese Absicht zum Ausdruck gebracht hatte, zeigte immerhin, dass sich die Regierung etwas überlegt hatte, dass bestimmte Fraktionen in der kommunistischen Führung mit uns einen Deal abschließen und uns nutzen wollten, und dass ihnen das viel wichtiger war als uns zu unterdrücken und zu verfolgen. ...

Tang Xin gab aber nach meiner Antwort nicht auf, sondern erhob neue Wünsche. Ich sollte das, was er gesagt hatte, in der Gemeinsamen Konferenz vortragen, um zu hören, wie die Teilnehmer und Aktivisten aus anderen Organisationen darüber dachten im ZK des Jugendverbandes Jugendarbeit zu leisten. Ich akzeptierte seinen Vorschlag und versprach, das in der nächsten Gemeinsamen Konferenz vorzubringen. Zu diesem Zweck habe ich eine Sondersitzung einberufen. Schon davor besprach ich das mit einigen, etwa mit Xu Wenli, der mit meiner Meinung und meiner Vorgehensweise einverstanden war. Bei der Sitzung erklärte ich zunächst genau, was Tang Xin gesagt hatte, und analysierte die Absichten hinter diesen Worten, woher sie möglicherweise kamen, und wie ich selbst darauf reagiert hatte. Ich betonte aber auch, dass die Demokratiemauer nur solange eine Kraft sein kann, die über die Gesellschaft wacht und sie kontrolliert, wie sie unabhängig ist. Sobald sich die Demokratiemauer mit offiziellen Stellen einlässt, selbst wenn man uns bestimmte Freiräume und Garantien verspricht, kann sie keine solche Wirkung mehr entfalten, so wäre es, wenn wir den Deal akzeptieren, von dem alle sprechen. Noch mehr waren die meisten durch Details irritiert, viele wollten unbedingt, dass ich nochmals genau über einzelne Sätze von Tang Xin sprach, ob er etwa gesagt hatte, welche Leute konkret Einfluss und Autorität besaßen, das hat natürlich einige interessiert. Aber weil es bekannt war, dass ich schon mit einigen Freunden gesprochen hatte, erklärte ich, als ich die Sitzung leitete, nochmals meine Einstellung und Meinung und fügte hinzu, dass in der Gemeinsamen Konferenz offenbar niemand bereit war, offen einen solchen Deal zu akzeptieren. Tang Xins Vorschlag wurde daher auch nicht wirklich diskutiert. Nach einigen Debatten verabschiedeten wir sehr rasch zwei Beschlüsse: Die Idee, im ZK des Jugendverbandes Jugendarbeit zu leisten, wurde von der Gemeinsamen Konferenz abgelehnt; einige Organisationen und Individuen wollten aber noch mehr darüber erfahren, Liu Qing könnte dabei helfen, und Tang Xin Kontakte herstellen.

Nach ein, zwei Tagen kam Tang Xin zurück, um sich nach der Lage zu erkundigen. Man sah, dass er diese Entscheidung nicht verstand und enttäuscht war. Ich erklärte ihm, dass die Gemeinsame Konferenz zwar insgesamt die Idee abgelehnt hatte, dass aber einzelne Organisationen und Individuen Interesse gezeigt haben und mehr darüber wissen wollten. Ich fragte Tang Xin, wie wir in Verbindung bleiben könnten, damit die interessierten Leute ihn individuell kontaktieren könnten. Ich glaubte, dass ihn diese Ergänzung etwas positiver stimmen könnte. Ich hatte das Gefühl, dass Tang Xin der Demokratiemauer nicht von vornherein feindselig oder böswillig gegenüberstand, obwohl er die Leute an der Mauer in verschiedene "Fraktionen" eingeteilt, und einige davon als gefährlich dargestellt hatte. Es gibt eine Episode, die vielleicht hilft die Haltung von Tang Xin zur Demokratiemauer zu verstehen. Tang Ruoxin, ein Funktionär in der Politikforschungs-Abteilung des Jugendverbandes, war ein anderer Offizieller, der offen Kontakt zur Demokratiemauer hielt. Zusammen mit Mitarbeitern hat er im Namen des Zentralkomitees des Verbandes einen Bericht zur Demokratiemauer verfasst, in dem er die verschiedenen Zeitschriften und Organisationen und ihre Vertreter genau beschrieb. In dem Bericht finden sich viele positive und lobende Sätze sowie einige Vorschläge, wie man die Demokratiebewegung steuern und beeinflussen könnte. Tang Xin hat einmal mit mir über diesen Bericht gesprochen, er meinte, Tang Ruoxins Artikel sei zu subjektiv und emotional, nicht so wie seine eigenen sachlichen und unparteiischen Berichte. Die Wirkung in der zentralen Führung sei daher kontraproduktiv, Tang Ruoxins Artikel würde eher Zweifel und Misstrauen gegenüber der Demokratiemauer auslösen, während seine eigenen Berichte mehr Verständnis und Zustimmung weckten. Einmal sagte er mir in etwas seltsam vertrauter Art, wenn man etwas Positives tun will, muss man auch wissen, wie man es erreichen kann. Entschlossen nach oben zu streben, sei leicht, aber nicht wieder herunterzufallen, sei die eigentliche Kunst. Dann drückte er zum Abschied ganz fest meine Hand, sichtlich überzeugt, dass er gegenüber der Demokratiebewegung seine eigentliche Kunst ausgespielt hatte. Auch wenn er mit seinen Worten nicht überzeugen konnte, weil er in seiner Einstellung zur Demokratiebewegung offenbar nicht so positiv war, wie es sich in Tang Ruoxins Aufrichtigkeit gezeigt hatte.

Schrift:

Die chinesische Demokratiebewegung 1978-1981 – Erinnerungen der damaligen Akteure

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