Die Debatten über die Demokratiebewegung innerhalb der chinesischen KP-Führung
Schon im Laufe des Jahres 1978, einige Monate vor dem "Dritten Plenum" im Dezember, das als Startsignal für große Wirtschaftsreformen gesehen wurde, spitzten sich die Debatten über den politischen Kurs der Nach-Mao-Ära zu. Deng Xiaoping war im Sommer 1977 in die Politik zurückgekehrt, fast ein Jahr nach Maos Tod und der Entmachtung der sogenannten "Viererbande", der radikalen Maoisten, gegen die die damals etwas moderatere Fraktion, geführt von Mao-Nachfolger Hua Guofeng und Maos "Leibwächter" Wang Dongxing, de facto geputscht hatten.
Eine Frage war nun, wie geht man mit dem politischen Erbe Maos um, hatte er doch zu vielen Themen "höchste Weisungen" erteilt und andere politische Ideen und Handlungen verurteilt. Parteichef Hua Guofeng und seine Getreuen kündigten zunächst strikte Loyalität zu Mao an: "Wir werden an allen Entscheidungen des Vorsitzenden Mao festhalten, und allen seinen Weisungen unerschütterlich folgen", lautete die Parole, die der Hua-Gruppe bald die Bezeichnung "Zwei-alles-Fraktion" (oder nach dem Englischen "whatever" die "Was-auch-immer"-Fraktion) eintrug, während sich die Dengs Reformer hinter der Parole "Die Wahrheit in den Fakten suchen" scharte.
In diesem Lichte muten manche Fragen, die die politischen Auseinandersetzungen 1978 bestimmten, heute absurd an, wie etwa: Muss man alles, was Mao einst dekretiert hat, wirklich buchstabengetreu weiterführen? Oder darf man vielleicht auch Änderungen andenken? Ja, darf man die Person Maos überhaupt kritisieren oder zumindest differenziert betrachten (z.B. in Hinblick auf seine enge Verbindung mit der "Viererbande")? Müssen die unzähligen Mao-Bildnisse, Statuen, Mao-Sprüche und anderen Erinnerungen an den "Großen Führer" bleiben? Bleiben Maos Vorgaben - alles "im Dienste des Proletariats" - weiterhin die verpflichtenden Ausdrucksformen für Presse und Kulturschaffende?
Und was wird aus den zahlreichen Opfern maoistischer Politik aus der "Kulturrevolution" und den politischen Kampagnen davor? Welche der von Mao gesäuberten Politiker hätten Anrecht auf Rehabilitierung und Rückkehr in die Politik, so wie es schon mit Deng Xiaoping geschehen ist? Und was soll mit den Hunderttausenden kleinen und mittleren KP-Funktionären passieren, die immer noch in Arbeitslagern schmachteten oder in entlegene ländliche Gebiete verbannt waren? Oder mit den Jugendlichen, die im April 1976 das Totengedenken an den Ministerpräsidenten Zhou Enlai in einer Kundgebung gegen das maoistische System umfunktioniert hatten?
Der Streit um die Rehabilitierung der Tiananmen-Bewegung von 1976
Der seit Monaten schwelende Konflikt zwischen der alten KP-Garde aus Maos Getreuen und "Reformern", die sich meist aus rehabilitierten Funktionären, die in der "Kulturrevolution" verfolgt waren, rekrutierten, bricht im November 1978 offen aus, als das Monatsmagazin "Chinesische Jugend" (Zhongguo Qingnian 中国青年) nach zwölf Jahren erzwungener Pause wieder erscheinen soll, die fertig gedruckte (und zum Teil schon versandte) Ausgabe aber auf Anweisung des Politbüro-Mitglieds Wang Dongxing verboten und konfisziert wird.
Was hat die vom Kommunistischen Jugendverband herausgegebene (und vom reformorientierten Vizeparteichef Hu Yaobang geförderte) Zeitschrift angestellt? Die Vergehen, die man ihr vorhält wiegen schwer: Die Nummer enthält eine positive Darstellung der Tiananmen-Revolte von 1976, die zu diesem Zeitpunkt immer noch als "konterrevolutionärer Zwischenfall" gilt. Weiters wird in einem Leitartikel unter der Überschrift "Mit dem Aberglauben aufräumen - sich die Wissenschaft aneignen" der blinde Mao-Kult als "moderner Aberglaube" verurteilt.
Einige Seiten aus der verbotenen Zeitschrift werden kurz darauf an der Xidan-Mauer (die man später "Mauer der Demokratie" nennen wird) aufgehängt, ein paar Tage später kann "Chinesische Jugend" schließlich doch ausgeliefert werden, die rasante Dynamik der politischen Entwicklung wird auf einmal spürbar. Plötzlich scheint nichts mehr tabu. Offizielle Medien (so wie die "Chinesische Jugend") sprechen von "Entfaltung der Demokratie", die Kritik an den verbliebenen Maoisten in der Parteiführung wird immer unverblümter.
Mitte November 1978 beschließt das Pekinger KP-Komitee unter dem neuen Bürgermeister Lin Hujia (林乎加) die vollständige Rehabilitierung der Demonstranten von 1976, statt als "konterrevolutionärer Zwischenfall" gelten die Tiananmen-Ereignisse (in denen damals Mao und die spätere "Viererbande" offen attackiert wurden) nun als "revolutionäre Aktion". Aktivisten, die noch in Haft oder Hausarrest sind, sollen unverzüglich freikommen. Alle großen Parteimedien verkünden diese politische Wende auf ihren Titelseiten. Gleichzeitig entfaltet sich die Demokratiebewegung an der Basis: Nicht nur an der Xidan-Mauer in Peking trauen sich die Menschen auf einmal, offen Meinungen gegen Mao, seine Politik und seine verbliebenen Anhänger zu äußern, die Welle der Kritik schwappt auch rasch auf andere Großstädte über.
Die große Reformkonferenz der KP und die Xidan-Mauer
Als im Dezember 1978 das KP-Zentralkomitee zur legendären "Dritten Plenartagung" zusammentritt, um vor allem über Wirtschaftsreformen zu beraten, diskutierten die Leute an der Pekinger "Mauer der Demokratie" schon über einen viel weiter gehenden Wandel wie die Abschaffung des politischen Monopols der KP, über Meinungs- und Medienfreiheit, Menschenrechte und die Frage, ob der "Westen" (so nennt man Europa und die USA) nicht ohnehin das bessere politische System hätte. Und es gibt eine Reihe hochrangiger Parteifunktionäre, die mit den Dissidenten an der Demokratiemauer nicht nur sympathisieren, sondern ihre Ansichten aufgreifen und damit auch Debatten innerhalb der KP befeuern.
Auch die der offiziellen Plenartagung vorausgehenden "Arbeitskonferenz" (die die formellen Beschlüsse vorbereitet, 10. November bis 15. Dezember 1978) liegt der Schatten der "Mauer der Demokratie", die nur ein paar hundert Meter vom Tagungsort entfernt liegt, wie mehrere Chronisten später berichten: In den Couloirs "bespricht man jeden Tag die neuesten Nachrichten von der Xidan-Mauer", schreibt der Historiker Yang Jisheng ("Die Ära Deng Xiaopings", S. 137), "die Wandzeitungen der Xidan-Mauer und die Debatten auf der Tagung über eine Befreiung des Denkens vermischen sich, ... beflügeln einander". Hua Guofeng (der Parteivorsitzende) und Wang Dongxing (der die maoistischen Traditionalisten anführt) verlieren - so Yang - die Kontrolle über die inhaltliche Lenkung der Arbeitstagung, immer mehr "Tabuthemen" würden diskutiert.
In die Zeit dieser Arbeitstagung fallen auch die Rehabilitierung der Tiananmen-Proteste von 1976 (am 14. November 1978) und Deng Xiaopings wohlwollende Anmerkungen zu Wandzeitungen und freier Meinungsäußerungen (am 26. und 28.11.). Am 13. Dezember, so berichtet der Reformökonom Yu Guangyuan (于光远), der auch die Reden für Deng Xiaoping mit redigiert, bittet ihn Deng, dieses Lob für die Demokratiemauer in seine offizielle Ansprache für das "Dritte Plenum" einzufügen, offenbar um der neuen Stimmung unter vielen Delegierten Rechnung zu tragen, die auch nach politischen Reformen verlangen. Diese Rede wird aber letztlich nie gehalten (so Yu Guangyuan in einem Interview; s. Ezra Vogel: Deng Xiaoping and the Transformation of China. 2011, S. 254).
Die (andere) Rede, die Deng auf der vorbereitenden Arbeitskonferenz hält, enthält sehr wohl einige Passagen über die Demokratiemauer, und die Fragen von Demokratie und offener Debatte im allgemeinen, berichtet Yu. So habe Deng Xiaoping Yu gebeten, kritische Anmerkungen zur Pekinger Stadtverwaltung vorzubereiten, die gegen Leute, die in Wandzeitungen Kritik geübt hatten, gerichtliche Verfahren einleiten wollte. Yu schreibt (Yu Guangyuan: Deng Xiaoping Shakes the World. 2017, S. 139-140):
An dem Tag, als der Redetext fertiggestellt wurde, rief mich Deng Xiaoping zu sich in seine Wohnung. Als er mich sah, sagte er: "Yu Guangyuan, es ist absurd, dass die Pekinger Stadtbehörden Verfahren gegen Leute einleiten wollen, die an der 'Xidan-Demokratiemauer' ihre Meinung geschrieben haben. Wenn ich in meiner Rede darüber spreche, dass Dossiers über Leute angelegt werden, die Kritik geübt haben, dann möchte ich abweichend von meinem Redetext ein paar Anmerkungen einfügen." Er bat mich, selbst ein paar solcher Anmerkungen zu redigieren und auch Beispiele zu nennen.
Im Abschnitt über "Demokratie", so Yu Guangyuan, spricht Deng in einer recht neuen Art und Weise über diesen Begriff. So lautet eine Zwischenüberschrift in Dengs Rede "Demokratie ist eine wichtige Vorbedingung für die Befreiung des Denkens". Im Zusammenhang mit der Rehabilitierung der Tiananmen-Proteste von 1976 meint dann Deng (Yu, S. 144):
Die Volksmassen sollten zu Kritik ermutigt werden. Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten, selbst wenn einige Unzufriedene die Demokratie dazu nutzen, um Unruhe zu stiften. Wir sollten mit solchen Situationen korrekt umgehen und uns darauf verlassen, dass sich die große Mehrheit der Menschen fähig ist, sich ihr eigenes Urteil zu bilden. Eine, was eine revolutionäre Partei hingegen sehr wohl fürchten muss, ist dass sie die Stimme des Volkes nicht mehr hört. Am meisten fürchten müssen wir uns vor Grabesstille.
Es ist also ziemlich klar, dass Deng Xiaoping anfangs durchaus positiv zur Möglichkeit kritischer Meinungsäußerungen aus der Bevölkerung eingestellt war, und dass es Demokratie und demokratische Mitwirkung weiter gefasst verstanden hat als in der herkömmlichen kommunistischen Doktrin, so wie auch andere in der engsten Parteiführung.
So lobte zum Beispiel in einer weiteren Abschlussrede auch der Stellvertretende KP-Vorsitzende (und De-facto-Staatschef) Ye Jianying (叶剑英) die "Mauer der Demokratie", schreibt Yu (S. 140):
In seiner Rede bei der Schlusszeremonie sagte Ye unmissverständlich, dass die Zentrale Arbeitskonferenz ein gutes Beispiel sei, wie innerparteiliche Demokratie voll zum Ausdruck kommt, und die "Xidan-Demokratiemauer" sei ein gutes Beispiel, wie Demokratie außerhalb der Partei voll zum Ausdruck kommt.
In einer leicht grotesken Anekdote erwähnt Yu Guangyuan dann noch (S.140), dass er selbst gerne aus eigener Anschauung mehr über die "Mauer der Demokratie" erfahren hätte, dass er sich aber "in seinem Alter" fürchtete hinzugehen, weil er gehört hatte, dass andere Parteifunktionäre dort attackiert worden waren. Nur Politbüromitglied und KP-Propagandist Hu Qiaomu (胡乔木), so hatte Yu gehört, ließ sich den persönlichen Augenschein nicht nehmen. Er begab sich einmal nachts mit einer Taschenlampe zu Demokratiemauer, um - unerkannt - selbst die Wandzeitungen zu lesen.
Das "Forum zur Theoriearbeit"
Noch deutlicher treten die Sympathien für die Demokratiebewegung bei einem - mit Unterbrechungen - über zwei Monate dauernden "Forum zur Theoriearbeit" zutage, das ab dem 18. Januar 1979 im Auftrag der Parteispitze von der Propagandaabteilung des ZK und der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften organisiert wird. Teilnehmer sind - neben dem KP-Generalsekretär Hu Yaobang und (gegen Ende zu) auch Deng Xiaoping - etwa 160 hochrangige Parteijournalisten, Juristen, Ökonomen und Wissenschafter, sowohl Vertreter des Reformflügels (die anfangs offenbar in der Mehrheit sind) als auch "konservative" Maoisten. In der Schlussphase, als Deng seine Schlüsselrede hält, in der er den zunächst offenen Tenor der Debatten ins Gegenteil verkehrt und die Partei auf die "Vier Grundprinzipien einschwört, kommen noch mehr als 200 Delegierte der Provinzen und der Armee dazu.
Die Themen der Debatten knüpfen zunächst eng an die aktuelle politische Entwicklung an: an den Umgang mit dem Erbe Maos und der "Kulturrevolution" (einschließlich der politischen Kampagnen der 50er und frühen 60er Jahre), die Notwendigkeit einer "Ent-Maoisierung" (man benutzt übrigens ausgiebig diesen Begriff "feimaohua 非毛化", obwohl er in den offiziellen Medien gar nicht vorkommt!), die Rolle von Demokratie und Freiheiten im Sozialismus (und überhaupt), die Kulturpolitik, der Status der KP im Staat, das Verhältnis zur Sowjetunion. Die Diskussionen werden durchaus kontrovers und mit persönlichen Beschuldigungen geführt, wie der Parteihistoriker Cheng Zhongyuan (in "Dramatische Jahre: China 1976-1981". Peking 2008, auf chinesisch) dokumentiert. [Die folgenden Zitate und Seitenangaben stammen aus diesem Buch, die Namen sind aus dem Text einer anderen Ausgabe ergänzt, dessen genaue Quelle noch zu klären ist, an dessen Authentizität aber kein Zweifel besteht.]
"Die Demokratiefrage ist eine der großen Fragen, die die sozialistischen Länder nicht gut gelöst haben" (S. 273), meint ein Teilnehmer [Qi Zhenhai vom Forschungsinstitut für Internationale Fragen der Pädagogischen Universität Peking]. Hochrangige Funktionäre sollten demokratisch gewählt werden. Ein weiterer [Xing Bisi vom Philosophie-Forschungsinstitut der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften] meint: "Falls es nicht gelingt, Demokratie in China umfassend zu entfalten, könnte in der Gesellschaft Neid auf die kapitalistische Demokratie entstehen" (S. 274). Andere aber warnen vor "demokratischem Individualismus", ein Begriff, den auch Hu Yaobang in seinem Anfangsstatement gebraucht hat.
In einem Unterkapitel, das Cheng Zhongyuan "Die Überflutung durch falsche Ideen und die Irrtümer auf der Konferenz" nennt (S. 291), spricht er die Gruppe der parteiinternen Sympathisanten des "Pekinger Frühling" direkt an:
"Bevor das Forum über Theoriearbeit einberufen wurde, stifteten einige wenige Menschen an mehreren Orten Unruhe. Hauptsächlicher Grund dafür waren Probleme, die die 'Kulturrevolution' hinterlassen hatte, etwa die Frage der Rückkehr der aufs Land verschickten Jugendlichen in die Städte, ökonomische Bedürfnisse, oder die Korrektur von Fehlurteilen, Willkür und Unrecht. Einige üble Elemente nutzten das, um Leute aufzuwiegeln, die Dinge zu übertreiben, bis hin zu Protestkundgebungen, in denen Einrichtungen der Partei und des Staates attackiert und belagert wurden. ... Außerdem propagierte eine sehr kleine Minderheit übel gesinnter Elemente eine bürgerliche Liberalisierung in der Gesellschaft, und verbreitete eine Infragestellung und sogar Ablehnung der Führungsrolle der Kommunistischen Partei, des sozialistischen Systems und der Ideen der Diktatur des Proletariats und der Lehren Mao Zedongs. ... Auch innerhalb der Partei und bei den Theoretikern (auch Teilnehmern des Theorieforums) gibt es eine sehr kleine Zahl von Genossen, die das Wesen dieser ideologischen Strömung nicht durchschauen und ihr destruktives Potenzial nicht erkennen, ihr sogar direkt oder indirekt Unterstützung zukommen lassen. Während der Abhaltung des Forums über Theoriearbeit hat die Überflutung durch falsche Ideen eher zu- als abgenommen und sich immer mehr ausgebreitet."
Aus zitierten Diskussionsbeiträgen wird auch klar, wer die "sehr wenigen" (in Wirklichkeit wohl doch etwas zahlreicheren, und keinesfalls unbedeutenden!) Sympathisanten der Demokratiebewegung sind: Reformorientierte Journalisten wie Hu Jiwei (胡继伟, Chefredakteur der "Volkszeitung"), der führende Ökonom Yu Guangyuan (于光远), Yan Jiaqi und Su Shaozhi (严家其、 苏绍智, marxistische Vordenker an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften) sowie weitere KP-Funktionäre rund um diese Reformgruppe, oft auch unterstützt vom KP-Generalsekretär und Propagandachef Hu Yaobang, während der "konservative" Parteiflügel auf dem Theorieforum von Hu Qiaomu (胡乔木, Vorsitzender der Akademie für Sozialwissenschaften) und Deng Liqun (邓力群, Vizepräsident der Akademie) geführt wird.
Die Inhalte der Debatten werden übrigens in informellen Briefingpapieren (jianbao 简报) schriftlich festgehalten und jeden Tag unter den Teilnehmern verteilt. Am Schluss wird allerdings dafür gesorgt, dass möglichst wenig von den Kontroversen nach außen dringt, alle Unterlagen müssen wieder abgeliefert werden, sie schlummern bis heute in den Parteiarchiven, auch die offenbar recht sachliche und eher positive Analyse, die die beiden Journalisten der "Volkszeitung" Fan Rongkang (范荣康) und Yu Huanchun (余焕春) im Forum vortragen, und die unter dem Titel "Xidan Minzhuqiang pouxi 西单民主墙剖析" (Analyse der Xidan-Demokratiemauer) nicht nur in einem Briefingpapier, sondern auch im internen Mitteilungsblatt der "Volkszeitung" (Renmin Ribao Neican 人民日报内参) abgedruckt und somit an zahlreiche hochrangige Funktionäre verbreitet wird.
Auch von einigen älteren Parteiführern kommt damals noch Lob für der Aktivisten der "Mauer der Demokratie": Zhou Enlais Witwe Deng Yingchao (邓颖超) wird mit den Worten zitiert, wer wissen will, was Demokratie ist, der solle an die Xidan-Demokratiemauer gehen, und auch Deng Xiaoping selbst hat ja die kritischen Wandzeitungen zunächst befürwortet.
Die Darstellung des Parteihistorikers Cheng Zhongyuan gibt Aufschluss, wie sehr einige Reformer Sympathien für die Anliegen der Demokratiemauer-Aktivisten hegten. Sogar der Direktor der ZK-Propagandaabteilung (und spätere KP-Generalsekretär) Hu Yaobang wird in dem Buch indirekt zumindest einer schwankenden Haltung gegenüber der Demokratiebewegung geziehen. [Zitate wiederum nach der Ausgabe von 2008, S. 292-297, dort fehlende Namen und Passagen aus der erweiterten Ausgabe sind in eckiger Klammer hinzugefügt].
Mit Hinblick auf diese Strömung falscher Ideen hat Hu Yaobang schon am 11. Januar, beim Abschluss einer Konferenz des Propagandaministers, die Teilnehmer zu Wachsamkeit gegenüber möglicherweise eingeschlichenen Personen , die extreme Unzufriedenheit mit dem sozialistischen System hegten, aufgefordert. In den "Geleitworten" zu Beginn des Forums über die Theoriearbeit, sprach er recht nachdrücklich über die Frage des "demokratischen Individualismus", den er aus vier Gesichtspunkten heraus erläuterte. Damals waren seine Erkenntnis über das Wesen dieses Problems und seine Gefahren allerdings noch ungenügend. Nach Beginn des Theorieforums ließ Hu Yaobang den Bericht des Ersten Sekretärs der Provinz Anhui, Wan Li, in einem Briefingpapier abdrucken (am 23. Januar). Darin betonte er nochmals in Hinblick auf Beschwerdeführer und Wandzeitungsschreiber, dass "mit der Entfaltung von Demokratie auch Rechtsordnung und Disziplin beachtet werden müssen". Anfang Februar ordnete Hu an, dass ein Bericht des Shanghaier Stadtkomitees über jüngst stattgefundene Demonstrationen, Schienenblockaden und Attacken auf Büros des Stadtkomitees dem Theorieforum zur Debatte vorgelegt werden sollten. Einige Genossen [u.a. Cao Zhi von der Forschungsabteilung des ZK-Organisationsministeriums] meinten, dass wir an zwei Dingen festhalten müssten: erstens Demokratie entfalten, und zweitens gegen Unruhestifter auftreten. Doch die Mehrheit der Teilnehmer des Theorieforums hat dem nicht wirklich Beachtung geschenkt, sie haben nicht ausreichend erkannt, dass diese anhaltende Strömung falscher Ideen zu einem ernsten Hindernis für die Umsetzung der Vier Modernisierungen werden könnte, eine solche Wachsamkeit hat ihnen gefehlt. Einzelne haben diese Strömung überhaupt direkt oder indirekt in verschiedenem Ausmaß unterstützt.
Nach Beginn des Theorieforums drangen einige der geäußerten Diskussionsbeiträge auch auf verschiedenen Wegen nach außen, und sie fanden durchaus Verbreitung. Umgekehrt fanden etliche Ansichten von der Xidan-Demokratiemauer und aus der Gesellschaft den Weg in die Theoriekonferenz. In den Debatten zur Theorie und zu konkreten Fragen fanden sich auf dem Forum sehr wohl Ansichten, die die führende Rolle der Kommunistischen Partei, die sozialistische Ordnung und die Diktatur des Proletariats in Zweifel zogen, abschwächten oder sogar verneinten sowie Mao und die Mao-Zedong-Ideen schlecht machten oder sogar völlig ablehnten. In der Debatte über die Abgrenzung der Periode des Sozialismus sprachen einige davon [u.a. Su Shaozhi], "wir dürfen nicht glauben, dass unser Wirtschaftssystem schon ein sozialistisches ist", auch ein solcher Standpunkt diente keinesfalls der Festigung und dem Aufbau des Sozialismus. Ein Genosse [Yu Guangyuan] schrieb rund um das Frühlingsfest den Artikel über "das Verschwinden des Staates nach dem Sieg der proletarischen Revolution", und verbreitete dies in einer Rede auf der Konferenz und in ausgiebiger gedruckter Form. Hu Yaobang schrieb nach der Lektüre vier Schriftzeichen darunter: "Kann so nicht akzeptieren." ...
Manche Genossen haben die Frage der Xidan-Demokratiemauer recht klar durchschaut. Ein Genosse [Li Pu von der Xinhua-Agentur] meinte in seiner Analyse: "Aus der Sicht der Demokratiemauer gibt es drei Tendenzen: Die erste, die die Mehrheit stellt, ist durchaus korrekt. Eine zweite, sehr kleine Minderheit, ist komplett gegen den Sozialismus und den Marxismus-Leninismus, auch den Vorsitzenden Mao würden sie am liebsten niederknüppeln. Der Sozialismus ist für sie schlimmer als der Revisionismus, der Revisionismus schlimmer als der Kapitalismus, sie beneiden den Westen und würden am liebsten Jimmy Carter die Probleme lösen lassen. Daneben gibt es noch eine extrem kleine Gruppe, die immer noch der 'Viererbande' nachtrauert." ... Einige wenige jedenfalls hatten große Wertschätzung für die Xidan-Demokratiemauer und unterstützten sie aktiv.
... Ein Mitarbeiter der "Volkszeitung" [Su Shaozhi] sagte: "Ist die Befreiung des Denkens aktuell noch nicht genug, oder schon zu viel? Und wie steht es mit der Einschätzung der Xidan-Demokratiemauer? Und mit Ansichten, die im Zuge der Entfaltung der Demokratie aus der Bevölkerung kommen? Wir meinen, dass die Befreiung des Denkens nicht zu weit geht, sondern noch nicht genug ist. Und die Xidan-Demokratiemauer ist eine gute Sache, ein Meilenstein sozialistischer Demokratie, müsste man sogar sagen. Natürlich können wir einige Phänomene wie den Brief an Jimmy Carter nicht gutheißen. Aber von einem Trend des demokratischem Individualismus zu reden, könnte etwas zu streng sein. Das Zentralkomitee sollte zur Demokratiemauer eine positive Haltung einnehmen."
Zwei Genossen [Die Forum-Teilnehmer Fan Rongkang und Yu Huanchun von der "Volkszeitung schrieben einen langen Beitrag und] sprachen am 14. Februar gemeinsam zum Thema "Analyse der Xidan-Demokratiemauer". Sie nannten viele Fakten, um dann zum Schluss zu kommen: Die Haupttendenz an der Demokratiemauer ist gesund und beweist, dass die jungen Leute die Probleme streng anhand der Prinzipien des Marxismus-Leninismus analysieren, mutig an die Wahrheit herangehen und ihre Kraft für die Umsetzung der Vier Modernisierungen zur Verfügung stellen. Gleichzeitig meinen die Autoren, dass mit der Demokratiemauer auch viele Probleme entstanden sind, die es zu lösen gilt. Ihr Standpunkt hat sich jedenfalls jenen angenähert, die die Demokratiemauer benützen, um falsche Ideen zu verbreiten und Unruhe zu stiften.
Nach dem gemeinsamen Vortrag [von Fan und Yu] entwickelte sich unter den anwesenden Gruppenmitgliedern [der Gruppe eins] eine heftige Debatte. Die einhellige Meinung war dann: Die Xidan-Demokratiemauer sei ein lebendiges, im In- und Ausland vielbeachtetes Beispiel eines demokratischen Lebens in China. Die Fragen, die an der Mauer der Demokratie erörtert werden, und die Vorschläge und Kritik, die von ihr ausgehen, würden ihre Bedeutung so sehr unter Beweis stellen, dass man zu ihr stehen muss. In einer Resolution wurde die Führungsgruppe des Forums aufgefordert, diese Ansicht auch dem Zentralkomitee zu übermitteln. [Der konkrete Inhalt des Vorschlags lautete: "Man soll den 'Kulturpalast des werktätigen Volkes' zu einem Ort machen, an dem die Menschen frei ihre Meinungen äußern können. In dem Park soll ein Sektor für Wandzeitungen eingerichtet werden, ein Ort für Diskussionen und Streitgespräche, ein fester Platz, an dem die Menschen ihre persönlichen Meinungen äußern können. Auf diese Weise sollte auch die enge Verbindung zwischen Partei und Volksmassen gestärkt werden. Leitende Funktionäre der Partei und des Staates könnten abwechselnd kommen, um die Stimmung, die Meinungen und die Forderungen der Bevölkerung zu hören und den Menschen die Schwierigkeiten und Probleme Chinas direkt zu erläutern. Gleichzeitig könnten sie Widersprüche aufklären, die winzige Minderheit der Unruhestifter im Volk würde so auf den rechten Weg geleitet."]
Gerade die Einstellung und Haltung zur Xidan-Demokratiemauer zeigt die Schwächen der für Ideologie und Theorie verantwortlichen Kreise und ihren Verlust der Urteilskraft und des Kampfgeistes gegenüber falschen ideologischen Strömungen auf. ... (S. 295-297)
Der Plan, die "Mauer der Demokratie" in den Arbeiter-Kulturpalast direkt am Tiananmen-Platz zu verlegen, und dort mit offizieller Genehmigung eine Art "Speakers Corner" nach dem Vorbild des Londoner Hyde-Parks einzurichten, wird auch von anderen Autoren bestätigt. Das Projekt wurde jedoch letztlich abgelehnt, u.a. vom Pekinger Bürgermeister Lin Hujia, der eher zum konservativen Flügel der chinesischen KP zählte. Das Ergebnis war schließlich die "Verlegung" der Wandzeitungsmauer in den weit abgelegenen Yuetan-Park einige Kilometer westlich des Zentrums, mit Zutrittsbeschränkungen und strikten Vorab-Kontrollen der Inhalte von Wandzeitungen. Und der chinesische Hyde-Park der freien Rede blieb vollends Fantasie.